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Autor: Ferit Tekbas, Manuela Woywode
Ort: Deutschland
Format: Text
Thema: Politik, Gesellschaft, Extremismus
Datum: 29.01.2024
Portal: ZOCD.DE
Textdauer: 5 Minuten
Sprache: Deutsch
Titel: Über den Rechtsextremismus in Deutschland - Ein Interview mit Mitri Sirin
Über den Rechtsextremismus in Deutschland - Ein Interview mit Mitri Sirin
Seit einigen Wochen gehen Tausende von Menschen in ganz Deutschland auf die Straße, rufen für Freiheit und Demokratie, setzen ein Zeichen für Frieden und wenden sich ab vom Rechtsextremismus. Unzählige Momentaufnahmen wie diese schenken Hoffnung, sind aber gleichzeitig erschreckend. Eigentlich sollte genau das heute nicht mehr notwendig sein.
Ausganssituation der ausgelösten Protestbewegungen, war ein Geheimtreffen von Rechtsextremisten am 25. November in Potsdam, bei dem der österreichische, rechtsextreme Aktivist Martin Sellner einen als „Masterplan zur Remigration“ angekündigten Plan zur Ausweisung bestimmter Bevölkerungsgruppen aus Deutschland vorstellte. Das sind Handlungen, die zeigen, dass die Entwicklung der AfD, aber nicht nur diese, in Richtung einer zunehmenden Radikalisierung geht. Wegschauen und gleichgültig zur Kenntnis nehmen, dass sich so viele Menschen einer solchen Partei zuwenden, sollte für ein demokratisches, freiheitsliebendes Land wie Deutschland nicht akzeptabel sein.
Die Situation ist wie ein Weckruf an die Gesellschaft.
In einem Interview sprach Ferit Tekbas, Vorsitzender des ZOCD, mit dem deutschen Fernsehmoderator und Journalist Mitri Sirin über die derzeitige Situation in Deutschland.
(Mitri Sirin, Bildquelle und Copyright: ZDF / Klaus Weddig)
Mitri Sirin ist im Münsterland geboren und aufgewachsen. In den 1960er Jahren kamen seine Eltern aus der Türkei als Gastarbeiter nach Deutschland. Seine Familie ist teils syrischer Abstammung und gehört in der Türkei einer christlichen Minderheit an. Nach dem Zivildienst zog Mitri Sirin nach Berlin und war als Moderator für den Radiosender Kiss FM tätig, seit 2009 moderiert er das ZDF-Morgenmagazin, Sondersendungen und die Heute Nachrichten.
Interview mit Mitri Sirin:
Nach dem geheimen Treffen einiger AfD-Politiker in Potsdam, unabhängig davon, ob es sich um eine private oder offizielle Teilnahme handelte, und dem Bekanntwerden von Details über den Inhalt der Zusammenkunft, scheint die Gefahr von rechtsextremen Tendenzen bewusster wahrgenommen zu werden.
Wie haben sich diese bekannten Umstände auf dich und deine Familie ausgewirkt?
Wir waren ziemlich geschockt. Das Rechtsextreme radikal sind, mag vielleicht nicht schockieren, wohl aber, dass demokratisch legimitierte Parteien und in Teilen gewählte Bundestagsabgeordnete einem Treffen mit Rechtsextremen beiwohnen, bei denen es um Pläne ging, die abscheulich sind. Abschiebungsphantasien und Vertreibungspläne auch für Zugewanderte mit deutschem Pass. Das widerspricht dem Grundgesetz und der Menschenwürde und hat glaube ich vielen Menschen die Augen geöffnet. Ich bin sehr froh, dass Hunderttausende in Deutschland das ähnlich sehen und dagegen auf die Straße gehen und hoffe stark, dass dieser Protest sich weiter zu einer noch größeren Welle entwickelt. Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass diese Proteste schon Wirkung entfalten.
Deine Eltern kamen Ende der 60er Jahre als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Du bist hier geboren und hast die Schule besucht. Dies ist deine Heimat. Machst du dir Sorgen um die Zukunft deiner Kinder in Deutschland?
Als Kind und Jugendlicher habe ich, so wie Millionen andere mit Zuwanderungsgeschichte, auch Rassismuserfahrungen machen müssen. Mulmig und unwohl wurde mir in den 80er und 90ern, als ich registrierte, dass es trotz historisch sensibler Geschichte immer noch Menschen in Deutschland gibt, die den Holocaust leugneten und die alle Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland hassen. Schlimm, dass solche Menschen schon damals teilweise politisch Verantwortung trugen, in Parteien wie der DVU oder der NPD. Dieses Gefühl ist leider wieder zurückgekehrt. Meine Familie und ich gehören zu Deutschland, genauso wie die vielen Millionen, die vor vielen Jahren und Jahrzehnten hierher eingewandert sind und sich eine Existenz aufgebaut haben. Wir alle gehören zu Deutschland und wir werden bleiben.
Viele Menschen gehen für Demokratie, Frieden und Freiheit auf die Straße, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Was muss sich jetzt in der Politik ändern, um Deutschland und seine Bürger vor Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus zu schützen?
Aktuell werden diverse juristische Möglichkeiten ausgelotet, um der unter Rechtsextremismusverdacht stehenden AfD etwas entgegenzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht (BVG) hat gerade mit seinem Urteil gegen die "Heimat" (ehemals NPD) eine Möglichkeit aufgezeigt, nämlich den Entzug staatlicher Finanzierungen für eine Partei. Wir werden beobachten müssen, wie das weitergeht. Aber darauf zu setzen, dass sich das Problem juristisch löst, sollten wir nicht hoffen. Unabhängig davon, das ist meine Auffassung, sind die Bürgerinnen und Bürger gefordert. Sie müssen in überwältigender Mehrheit klarstellen, in was für einem Land sie leben wollen. Und so wie es sich aktuell zu entwickeln scheint, gibt es sehr, sehr viele Menschen, die auf gar keinen Fall in einem Land leben wollen, in dem eine Partei damit sympathisiert oder es offen unterstützt, dass Nachbarn, Arbeitskollegen oder Freunde und Bekannte oder vielleicht der Gemüsehändler einfach abgeschoben werden sollen, weil sie nicht einem gewissen Bild oder einer Ideologie entsprechen. Die Zivilgesellschaft wird das zu verhindern wissen.
Innerhalb der nahöstlich-christlichen Gemeinschaften fällt auf, dass viele der AfD gegenüber nicht abgeneigt sind. Woran liegt das, und welche Gefahren sind damit verbunden?
Nun ich denke, das z. B. orientalische Christen, vor allem in ihren Heimatländern von islamischen Regierungen wegen ihrer Konfession unterdrückt wurden. Und das sind schlimme und prägende Erfahrungen. Und wenn man, ohne es vielleicht groß zu hinterfragen, von einer Partei hört, die vor allem Islamisten ausweisen will aber auch generell dem Islam kritisch bis ablehnend gegenübersteht, dann denken diese Christen vielleicht: “Oh, dass finden wir gut, die haben uns damals doch auch ausgegrenzt und schikaniert, das finden wir unterstützenswert.” Aber, einer Partei wie der AFD, geht es ganz sicher nicht darum, ob eine migrantische Person aus der Türkei, dem Libanon oder Irak ein Christ ist, sondern einfach ihrer Meinung nach nichts mit der deutschen Kultur und Identität zu tun hat und darum zu gehen hat. Dagegen sollte man unbedingt mit Informations- und Bildungsangeboten in der Community orientalischer Christen entgegenwirken. Sonst droht die Gefahr, dass sie am Ende eine Partei unterstützen, die sie am liebsten ausweisen möchte. Darum bitte ich alle Leserinnen und Leser, in diesem Sinne auf Freunde, Bekannte oder in der Gemeinde einzuwirken, die das unter Umständen nicht wissen.
Vielen Dank, Mitri, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast.