Bild, Simon Jacob. Von links nach rechts: Simon, Hakan, Özcan, Yildirim

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Die heutigen Debatten, angefacht von Populisten, Extremisten und Nutznießern eben solcher, emotional und religiös hochgradig aufgeladenen Diskussionen, verunsichern viele in der Gesellschaft und erzeugen neben Unsicherheit vor allem Ängste.

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Und Angst ist kein guter Ratgeber, wie ich in meiner früheren Zeit als investigativer Journalist, insbesondere in den Terrorkriegen in Syrien und dem Irak, immer wieder erfahren durfte und musste.

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Angst als Instrument der Spaltung

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Angst dividiert, weil sie dazu verführt, kurzfristige Entscheidungen zu treffen, die nur zwischen Schwarz und Weiß unterscheiden und ausschließlich jenen dienen, die Angst als Instrument zur Kontrolle betrachten.

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Im Prozess der Schuldigen-Suche für die schwierige Wirtschaftslage, die hohen Energiepreise, terroristische Anschläge usw. werden, besonders in den sozialen Medien, einfache Rezepte verbreitet, die stigmatisieren und positive Entwicklungen, die in großem Umfang deutlich vorhanden sind, in den Hintergrund drängen.

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Dass es soziale Spannungen, Terroranschläge auf Veranstaltungen und überproportional viel Clankriminalität innerhalb neu hinzugezogener migrantischer Milieus aus patriarchalischen Gesellschaften gibt, steht außer Zweifel. Ein nicht befürworteter und auch sehr kritisch betrachteter Zustand übrigens, auf den schon seit Jahren im Besonderen Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund hinweisen. Ich selbst war und bin weiterhin bestrebt, auf die Fehler einer Migrationspolitik hinzuweisen, die zu einer Gettoisierung führt, das Erlernen der deutschen Sprache nicht fördert und die Bildung patriarchalischer Clanstrukturen, gefangen im eigenen Milieu, begünstigt.

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Die produktive Kraft der Migration

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Dennoch bin ich der Überzeugung, dass Migration, verbunden mit unterschiedlichen Weltanschauungen, der freien Debatte, dem offenen Diskurs und nicht zuletzt einem gesellschaftlichen, kreativen als auch unternehmerischen Beitrag, für die weitere Entwicklung Europas – als Ideal freiheitlichen und inklusiven Denkens – von großer Bedeutung ist.

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Dazu möchte ich das Beispiel der Migrationsgeschichte von mir und meinen Freunden Yildirim, Hakan und Özcan anführen.

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Wir alle vier haben einen starken Bezug zu unserem Ursprungsland Türkei. Unsere Eltern kamen als Gastarbeiter oder, wie in meinem Fall, als Flüchtlinge nach Deutschland.

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Unsere Eltern waren fleißig, arbeiteten hart in einfachen Berufen und ermöglichten es ihren Kindern, berufliche Ebenen zu erreichen, die sie selbst nie hätten erreichen können. Aus jenen, die am Anfang von einer offenen und liberalen Gesellschaft Unterstützung erhielten, wurden zunächst einfache Steuerzahler und Geber der Gesellschaft. Fortgeführt durch ihre Kinder wurden sie zu Unternehmern, Fachkräften, hochspezialisierten Handwerkern, Ingenieuren, Journalisten usw.

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Die zweite Generation trug bereits dazu bei, der Gesellschaft mehr zurückzugeben, als diese jemals erhielten, und hält den Wohlstand aufrecht, welcher z.B. die Sozialsysteme des Landes finanziert und stabilisiert.

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Gewiss, wir haben noch viel Arbeit vor uns, wenn wir im globalen Wettbewerb wieder konkurrenzfähig sein wollen. Bürokratieabbau, strukturelle Reformen, eine gemeinsame Fiskalpolitik auf EU-Ebene, mehr Technologieoffenheit, günstige Energie und vor allem der Kampf gegen hybride Kriegsführung stehen an erster Stelle. Dennoch sehe ich Lichtblicke, wenn ich mich mit Hakan, Yildirim und Özcan unterhalte.

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Ein Treffen nach 20 Jahren: Immer noch die „Kidz“ von damals

Bild: Simon Jacob. Von links nach rechts: Hakan, Yildirim, Özcan, Simon

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Nur in einem offenen, pluralistischen und liberalen Kulturraum war und ist es möglich, Ideen und unterschiedliche Meinungen auszutauschen.

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Wir vier kennen uns seit der Schule, sind zusammen aufgewachsen, machten die Nächte durch, tobten uns auf Partys aus, tranken manchmal einen zu viel und hatten am nächsten Tag Kopfschmerzen, diskutierten vehement über Filme, fragten uns, ob die Matrix real sein könnte, spielten gemeinsam Playstation und führten hitzige Debatten über Politik, Religion als auch Sport. Der weibliche Teil unserer Gruppe forderte uns zum Diskurs heraus, wenn wir, testosterongesteuert in jungen Jahren, eine dumme sexistische Bemerkung machten. Gleichzeitig erfreuten wir uns der Tatsache, dass wir voneinander lernen durften, gemeinsam Spaß hatten und uns auch gegenseitig unterstützten.

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Für mich hatten all diese Erinnerungen eine besondere Bedeutung. Von 2012 bis Ende 2019 verbrachte ich viel Zeit als Journalist in den Terrorkriegen des Iraks und Syriens. In diesen Jahren durchlebte ich eine Zeit, die mich in meinem Denken zutiefst verstörte und dazu führte, dass ich nach emotionalem Halt suchte – in meinen Erinnerungen, die mich davon abhielten, zu erkalten und emotional stumpf zu werden. Die Erinnerungen an meine Freunde waren ebenjener Anker. Das fröhliche Lachen Özcans und seine mitfühlende Art, der beschützende Instinkt Yildirims gegenüber jedem Menschen, dem Unrecht angetan wird, und der coole, aber immer freundschaftliche als auch erdende Blick Hakans waren Erinnerungen, die mich nicht in die Dunkelheit irrationaler Wahrnehmung drängten.

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Vor ein paar Tagen, letzten Sonntag genauer gesagt, trafen wir uns nach 20 Jahren zum ersten Mal wieder gemeinsam. Es war wie früher.

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Wir waren wieder „vier Kids“, die Debatten führten, unterschiedlicher Meinung sind, kontroverse Gespräche führen, sich austauschen, über Schwachsinn und den Sinn der Matrix aus den Matrixfilmen debattieren, einfach Spaß haben und unseren Beitrag für die Gesellschaft, als Fachangestellte, Unternehmer usw. leisten.

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Eines hat sich dennoch verändert: die gesellschaftliche Wahrnehmung gegenüber Deutschen mit Migrationshintergrund wie uns. Die Welt ist, dank jeder Menge Unsinn und Schwachsinn auf TikTok und Co., rauer geworden.

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Aber wir sind immer noch die vier Migrantenkids von damals aus den 90ern…

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Simon Jacob,

16. Dezember 2025, Augsburg