Quelle: Oannes Consulting GmbH (Simon Jacob), Nordsyrien – Qamischli Dezember 2015, Weihnachtsmesse
Syrien – Die Sorge um religiöse Minderheiten
Seit vielen Jahren war ich als Journalist im Nahen Osten tätig, insbesondere in Syrien, dem Irak und der Südosttürkei. Gemeinsam mit Medien wie der ARD, dem ZDF, n-tv und renommierten Zeitungen wie Die Zeit habe ich Reportagen, Dokumentationen und Inhalte für die westliche Berichterstattung produziert. Während der Corona-Pandemie beendete ich meine journalistische Laufbahn und kehrte zurück ins Management und in die Branche, aus der ich ursprünglich komme. Das hochmoderne, technologisch geprägte Umfeld, in dem ich früher und heute wieder aktiv bin, hat mich gelehrt, Entwicklungen rational und möglichst emotionsfrei zu betrachten – eine Herangehensweise, die ich deutschen Ingenieurstugenden zuschreibe.
Doch muss ich eingestehen, dass es mir manchmal schwerfällt, insbesondere wenn es um Syrien geht. Ich wurde selbst in dieser geschichtsträchtigen Region geboren, bevor meine Eltern 1980 mit mir nach Deutschland flohen. Ich sehe mich heute als stolzen Bürger Deutschlands, fühle aber dennoch eine tiefe Verbundenheit mit meinen Verwandten, Freunden und Angehörigen, die weiterhin in Syrien und anderen Teilen des Nahen Ostens leben. Als Teil einer religiösen Minderheit der Region bereiten mir die Entwicklungen dort immense Sorgen.
Einerseits hoffe ich, dass Vertreibungen und islamistisch geprägte Gewalt verhindert werden können, denn dies würde den Bürgerkrieg weiter anheizen. Andererseits besteht die Gefahr gegenteiliger Entwicklungen, die tiefgreifende negative Auswirkungen auf den gesamten Nahen Osten, einschließlich Israel und Europa, hätten.
Vielfalt Syriens muss erhalten bleiben
Syrien besitzt eine vielfältige religiöse, ethnische und kulturelle Landschaft. Nach dem Sturz des Regimes steht die Zukunft dieser Vielfalt nun auf dem Spiel, und das Land befindet sich an einem Scheideweg. Besonders die Christen Syriens machen sich berechtigte Sorgen um ihre Zukunft. Auch die Gemeinschaft der Alawiten, der früheren Machthaber Assad selbst angehörte, muss Racheakte fürchten.
Die HTS-Gruppierung, die sich teilweise aus islamistischen Gruppierungen zusammensetzt, hat zwar die Einhaltung der Bürgerrechte und insbesondere der Religionsfreiheit für alle versprochen. Dennoch bestehen bei vielen Minderheiten wie Christen, Drusen und Alawiten berechtigte Zweifel daran, ob die neuen Machthaber ihre Zusagen ernst meinen und die Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften tatsächlich umsetzen.
Quelle: Simon Jacob, Johannes Consulting GmbH. 2015 Nordsyrien, eingebettet in die militärische SDF - Operation "Vulkan" gegen den IS.
Die Zukunft Syriens wird entscheidend davon abhängen, ob die Menschenrechte, insbesondere für Minderheiten, eingehalten werden. Das Ergebnis wird entweder ein „Failed State“ sein – ein Szenario, das nicht im Interesse der EU liegen dürfte – oder ein Neuanfang in Form eines konföderalen Systems mit ethnisch-religiösen Grenzziehungen, das ein respektvolles Leben für alle Bürgerinnen und Bürger ermöglicht.
Leider erreichen uns bereits jetzt Berichte, die darauf hinweisen, dass sich die Situation in eine negative Richtung entwickeln könnte. Seriöse Quellen kritisieren beispielsweise ein angebliches Verbot der neuen Machthaber, das traditionelle Nikolausfest, das in vielen Regionen des Landes eine lange Tradition hat, nur eingeschränkt zu feiern. Eine entsprechende Anweisung soll, so Quellen vor Ort, an den leitenden Klerus der syrischen Kirchen übermittelt worden sein.
Schutz religiöser Minderheiten
Syrien hat eine historisch vielfältige Kirchenlandschaft, die sich über Jahre hinweg mit dem Assad-Regime arrangiert hatte. Obwohl Christen keine umfassenden Freiheitsrechte genossen, gewährte ihnen das Regime einen gewissen „Schutzstatus“, der ihr Überleben ermöglichte. Der Klerus pflegte dabei enge Beziehungen zu den Herrschenden – ein Zweckbündnis, das auf der Furcht vor radikalen Gruppierungen wie dem Islamischen Staat (IS) beruhte, der in Syrien und dem Irak unermessliches Leid verursacht hat. Auch die Vertreibungen durch islamistische Gruppierungen vor der Entstehung des IS bleiben unvergessen.
Heute herrschen vielerorts Ungewissheit und Angst, insbesondere in Gebieten, in denen die Gruppe HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham) Machtansprüche erhebt. In den Medien wird jedoch oft übersehen, dass neben Islamisten auch säkulare Gruppierungen, liberale sunnitische Stämme sowie kurdische und christliche Militäreinheiten an der Befreiung Syriens beteiligt waren, die zwar nicht Teil der HTS – Formation sind, sich aber mit dieser im Austausch befinden. Im Norden Syriens haben Kurden, Araber und die ethnischen Suryoye (Eigenbezeichnung der syrischen Christen) eine autonome Region aufgebaut, in der Christen relativ gleichberechtigt leben können. Zwar sind die Verhältnisse nicht mit Deutschland vergleichbar, doch stellen sie einen Fortschritt im Vergleich zum Rest des Landes dar – solange die Türkei nicht eingreift. Ankara betrachtet die von Kurden dominierte Region, insbesondere die YPG, die der in Europa als Terrororganisation eingestuften PKK nahesteht, mit großer Skepsis. In den urbanen Zentren wie Damaskus und Aleppo bleibt die Zukunft der christlichen Minderheit unsicher. In Latakia, das Stammland der Alawiten, dürften die Sorgen vor Vertreibungen und Gewalt, von Islamisten ausgehend, sehr groß sein. Kurden werden sich nun ebenfalls Gedanken darüber machen, ob sie nicht in den kurdisch dominierten und autonomen Norden des Landes begeben.
Konsequenzen des Umsturzes für Minderheiten
Syrien ist ein Land mit einer Vielzahl von Ethnien und Religionsgemeinschaften. Vor der Aufteilung der Levante durch die Briten und Franzosen (siehe Sykes-Picot-Abkommen von 1916) lebten die verschiedenen Gemeinschaften in Stammesstrukturen mit wirtschaftlichem und kulturellem Austausch. Dennoch war z.B. die gesellschaftliche Stellung der Alawiten, bedingt durch ihre religiöse Ausrichtung, gering, was zu Spannungen führte – Konflikte, die jetzt erneut aufbrechen könnten. Diese Spannungen würden besonders Minderheiten wie Drusen, Christen oder Jesiden schaden, die sich nur schwer verteidigen können.
Die Zukunft Syriens hängt entscheidend von externen Akteuren wie den USA und der Türkei ab, die unterschiedliche Interessen verfolgen. Frankreich und Großbritannien spielen ebenfalls eine Rolle, während Deutschland – trotz der Aufnahme vieler Flüchtlinge – nur begrenzte politische und strategische Verbindungen in die Region hat. Die EU sollte, im Interesse ihrer Werte und Sicherheit, eine aktivere Rolle einnehmen, um Minderheiten zu schützen und durch Zusammenarbeit mit der Türkei und arabischen Staaten Rechtsstaatlichkeit, Wiederaufbau und wirtschaftlichen Fortschritt zu fördern.
Quelle: Simon Jacob, Oannes Consulting GmbH. 2019, Nordsyrien, nahe der türkischen Grenze. Im Gespräch mit einem sunnitischen Stammesführer und Politiker, der in Opposition zum IS und zum Assad-Regime steht.
Eine solche Stabilisierung könnte nicht nur neue Flüchtlingswellen verhindern, sondern auch sowohl Syrien als auch Europa wirtschaftlich voranbringen. Syrien könnte beispielsweise in Zusammenarbeit mit der Türkei als Transitland für Pipelinegas dienen. Dies würde die Energiekosten in Europa erheblich senken und gleichzeitig eine umweltfreundlichere Alternative zum Import von Flüssiggas darstellen. Eine solche Kooperation würde nicht nur Stabilität fördern, sondern auch die Grundlage für Sicherheit und den langfristigen Schutz von Minderheiten schaffen.
Wer sind die neuen Machthaber ?
HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham) ist ein heterogenes Bündnis aus verschiedenen Gruppierungen, darunter Islamisten, gemäßigte Akteure, säkulare Einheiten sowie andere militärische Formationen. Die medial verbreitete Darstellung als rein islamistische Gruppe wird der Realität oft nicht gerecht. Der militärische Erfolg der HTS wurde durch die Unterstützung der von den USA geförderten SDF (Syriac Democratic Forces) sowie der von der Türkei dominierten SNA (Syrian National Army) ermöglicht. Es ist wahrscheinlich, dass westliche Nachrichtendienste durch hochmoderne Technologien, wie Satellitenaufklärung, die Koordination und Effizienz der Rebellen unterstützten.
Die Frage bleibt, welche Interessen westliche Unterstützer, darunter die USA, Frankreich und Großbritannien, verfolgen. Auch Ankara hat eine entscheidende Rolle. In Deutschland hingegen ist zu befürchten, dass dessen Einfluss auf die Region weiterhin gering bleibt, obwohl gerade hier wichtige Entscheidungen notwendig wären.
Bereits jetzt ist zu beobachten, dass Medien den sprachlichen Duktus im Zusammenhang mit dem HTS ändern. Es wird von „gemäßigten“ Islamisten gesprochen. Ein Hinweis darauf, dass eine Annäherung an die neuen Machtverhältnisse gearbeitet wird. Mit allen damit verbundenen Erwartungshaltungen aller Akteure, die eine Rolle spielen.
Perspektiven
Die Levante steht an einem entscheidenden Wendepunkt. Die künstlichen Grenzen, die einst von Frankreich und Großbritannien gezogen wurden, haben faktisch ihre Bedeutung verloren. Die neuen Machthaber stehen nun vor der Wahl: Entweder gelingt es ihnen, eine konföderale Struktur zu etablieren, die auf Bürgerrechten, Sicherheit und wirtschaftlichem Wohlstand basiert, oder das Land gerät erneut in einen Bürgerkrieg, der die gesamte Region weiter destabilisieren könnte.
Die EU muss ihre Zurückhaltung aufgeben und strategisch agieren. Es braucht realistische Ansätze, die sich an den pragmatischen Gegebenheiten vor Ort orientieren und nicht von ideologischen Wunschvorstellungen geleitet sind. Eine westliche Vorstellung von Demokratie wird sich in Syrien nicht durchsetzen lassen. Stattdessen erfordert die Stabilisierung des Landes, gemeinsam mit allen beteiligten Akteuren – innerhalb und außerhalb Syriens – langfristige Investitionen in Sicherheit, Infrastruktur und wirtschaftliche Entwicklung. Nur so kann sowohl Syrien als auch Europa stabilisiert werde
Simon Jacob, Augsburg,
10.12.2024