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Die von den einzelnen Autoren veröffentlichten Texte geben ausschließlich deren Meinung wieder und nicht die der bearbeitenden Redaktionen und Veröffentlichungsplattformen
  
Autor: Daniela Hofmann
Ort: Deutschland
Format: Text
Thema: Gesellschaft
Datum: 08.02.2021
Portal: www.zocd.de 
Textdauer: ca. 15 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Senfkorn – Eine bilinguale Kindertagesstätte, die Kulturen zusammenbringen will
  
(Bildquelle: tolmacho auf Pixabay)

Senfkorn – Eine bilinguale Kindertagesstätte, die Kulturen zusammenbringen will

  
Nicht vielen ist bekannt, dass sich Deutschland zur Heimat einer uralten semitischen Sprache entwickelt hat, die in Mesopotamien und anderen Regionen des Nahen Ostens über Jahrhunderte als Lingua Franca, wie das heutige Englisch, genutzt wurde: das Aramäische.
  
Diese Sprache breitete sich bereits in frühchristlicher Zeit unter den sog. syrischen Christen im Orient und darüber hinaus aus. In der Form des klassischen Syrisch ist es seit dem frühen Mittelalter in Europa als Sprache der orientalischen Christen bekannt und wurde entlang der Seidenstraße sogar bis ins entfernte China verwendet.
  
Heute wird in Deutschland das Aramäische an einigen Universitäten in seinen verschiedenen alten und modernen Dialekten erforscht und gelehrt. Für viele galt diese kultur- und religionsverbindende Sprache als verloren. Dabei ist sie - noch - quicklebendig in Europa und den USA anzutreffen, wohin  in den meisten Fällen die aramäisch-sprachigen Christen (Aramäer/Assyrer/Chaldäer) aus ihren Ursprungsgebieten Türkei, Syrien und Irak immigrierten bzw. flohen und ihre Sprache, das Aramäische, mitbrachten.
 
2012 ergab eine Zählung des Zentralrates Orientalischer Christen in Deutschland e.V., basierend auf den Quellenangaben des Bistums in Warburg, dass allein 100.000 – 120.000 Mitglieder der Syr.-Orth. Kirche in Deutschland beheimatet und des Aramäischen mehr oder weniger mächtig sind. Bedingt durch die Flüchtlingsströme aus dem Nahen Osten innerhalb der letzten Jahre dürfte die Population, andere nahöstlich – christliche Denominationen eingerechnet, geschätzt inzwischen mehrere 100.000 Bürgerinnen und Bürger betragen. Von daher lag die Idee der Förderung des Aramäischen, im Zusammenhang mit kulturhistorischen Gegebenheiten und um sie als Brückenbauer zu anderen Kulturen und Traditionen zu nutzen, nahe.  
  
Das Kindergartenprojekt „Senfkorn“ hat sich genau dies zum Ziel gesetzt. Warum nicht einen „bilingualen“ Ort für Kinder schaffen, in dem Deutsch und Aramäisch gelehrt wird? Deutsch als  Muttersprache, um sich als Mitglied einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft zu verstehen und Teil dieser zu sein, das Aramäische als Ausdruck der Gemeinsamkeiten zwischen den Völkern und Religionen. Denn das war und ist das Aramäische weiterhin. Die Sprache Jesu war einst die „Lingua Franca“ des Nahen Ostens. Nun kann sie, gerade in Anbetracht der erstarkten Präsenz in Deutschland und in Europa, zur „Lingua Franca“, zum Brückenbauer und zur Friedenssprache im Westen werden - gerade jetzt, in einer Zeit, in der Populisten und Dogmatiker versuchen die Gesellschaft zu spalten und gegeneinander aufzuwiegeln. Gemäß des christlichen Gedankens „Gesegnet sind die Friedensstifter“, ist es die Idee des gemeinsamen Zusammenlebens, als eine Kultur, Religion, Tradition unter vielen, welche dazu bewogen hat, das Projekt „Senfkorn“ ins Leben zu rufen.  
 
Mit Saliba Gabriel, einem der Gründer und Visionären des Projektes, unterhielten wir uns über die aktuellen Entwicklungen und Hürden, welche noch zu meistern sind.
 
Saliba Gabriel wurde im Südosten der Türkei geboren. Als er mit seiner Familie Mitte der 80-er nach Deutschland auswanderte war er sechs Jahre alt. Neben Aydin Izgin ist er einer von zwei Gesellschaftern des Trägers. Beide sind im hessischen Bebra zur Schule gegangen und waren in den 90er Jahren gemeinsam als Jugendliche in der dortigen Jugendgruppe der syrisch-orthodoxen Kirchengemeinde aktiv. Sie veranstalteten Feste, Tanzkurse, Ausflüge, Bibel- und Geschichtsstunden u.v.a.m. Herr Izgin ist immer noch ehrenamtlich in der Bebraer Kirchengemeinde in der Jugend- und Kulturarbeit tätig. Der Familienvater hat zwei Töchter und ist von Beruf Controller. Herr Gabriel lebt und arbeitet seit 2015 in Paderborn und engagiert sich dort seit 2016 ehrenamtlich in der Syrisch-Orthodoxen Kirchengemeinde St. Aho. Der gelernte Diplom-Kaufmann ist verheiratet und Vater von drei Kindern. In seiner Freizeit beschäftigt sich Herr Gabriel mit der Geschichte und Kultur der Orientalischen Christen. Auf diese Weise kam auch das beliebte Kochbuch „Aramäisch Kochen“ im Jahr 2013 zu Stande, welches im englisch-sprachigen Raum den Titel „Mesopotamian cooking“ trägt. Seit Gründung des Trägers führt Herr Gabriel als alleiniger Geschäftsführer die Geschicke der Senfkorn Kindertagesstätte gGmbH. 
 
 
(Bildquelle: privat)
 
Welche Bedeutung hat Sprache für Euch?
Eine sehr hohe Bedeutung. Die Sprache ist ein essenzieller Teil der eigenen Identität und gleichzeitig auch ein Brückenbauer. Sie verbindet die Menschen und führt in die Kultur des anderen ein. Ohne die Sprache zu kennen, kann man sich nicht in die kulturelle Auffassung des anderen hineinbegeben.
 
Welchen Wert hat in diesem Zusammenhang das Aramäische für Euch?
Die deutsche Sprache steht nach wie vor an erster Stelle. Das Erlernen dieser ist von essenzieller Bedeutung in unserer deutschsprachigen Heimat. Dennoch sollten wir darauf achten, unsere vielfältige Tradition und Kultur tangierend, dass Kinder im Kindergarten das Geschenk einer so wunderbaren Sprache wie das Aramäische nicht vergessen.  Hierzu hatte ich auch zwei sehr interessante Gespräche. Das erste mit Prof. Werner Arnold, Experte für Semitistik an der Fakultät in Heidelberg, das zweite mit Frau Prof. Steffi Sachse aus dem Fach Entwicklungspsychologie und dem Schwerpunkt Sprachentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Beide befürworten aufgrund der Gefahr, eine so geschichtsträchtige und schützenswerte Sprache zu verlieren, mehrsprachige Bildungseinrichtungen. Falls wir diese Einrichtungen nicht ins Leben rufen können, wird das Aramäische hier in Deutschland spätestens in 20 Jahren, so geschätzt, nicht mehr erhalten sein. Eine derartige Entwicklung beobachten wir bereits in den USA und anderen Ländern mit großer Sorge.
  
Und für Dich ganz persönlich, privat und im Glauben?
Ich bin dankbar, dass ich diese wertvolle und gewinnbringende Sprache beherrsche. Wäre ich nicht in den Genuss gekommen, einen Teil meiner Kindheit in meiner ursprünglichen Heimat verbringen zu können, wäre es wahrscheinlich anders gewesen. Das Aramäische ermöglicht es mir, mich mit Familie und Freunden, die auf der ganzen Welt verstreut leben, zu unterhalten. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie meine Sprache verstehen oder nicht. Der kulturhistorische Kontext reicht oft schon aus. Sobald man Aramäisch spricht, spürt man etwas Vertrautes. Ohne die aramäische Sprache würde mir der tiefe Zugang zu meiner Kultur, die auch weitere nahöstliche Gesellschaften positiv berührt, fehlen. Damit einhergehend ginge auch ein wesentliches Stück meiner Identität verloren.  
 
Kann Sprache Brücken zwischen den Kulturen und Religionen schaffen, auch zwischen Muslimen, Juden Christen, Atheisten?
Absolut. Das erleben wir vielfach, überall auf der Welt. Wie anfangs erwähnt, kann man die Kultur des anderen nur dann richtig verstehen, wenn man auch seine Sprache spricht. Im Nahen Osten waren und sind Christen bis heute traditionelle Brückenbauer. Gerade bei Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Ethnien und religiösen Gemeinschaften wurde und wird unsere besonnene wie auch auf Frieden ausgerichtete Art sehr wertgeschätzt und auch intensiv genutzt. Diese spezifische Gegebenheit wird in den Chroniken des Orients, belegt durch die Schriften der jeweiligen Herrscherdynastien, immer wieder erwähnt. Und wir können auch die Brückenbauer in Europa sein.
 
Ist das eines der Ziele Eures Projektes ?
Die aramäische Sprache berührt und sollte es auch weiterhin tun, gerade in Anbetracht der oben erwähnten historischen Charakteristik der neuen Mitbürger;  egal ob sie nun aus dem Irak, Syrien, dem Libanon oder anderen Regionen des Nahen Ostens kommen. Sprache, Tradition, Kultur in Verbindung mit Akkulturation im Westen geben uns die einzigartige Chance, eine Art Katalysatorfunktion einzunehmen. Demokratie, Pluralismus, Individualismus und die Akzeptanz westlich – gesellschaftlicher Normen werden nur im Sinne aller Bürgerinnen und Bürger erlernt, wenn diese auch verstanden werden. Wir sind mit unseren Fähigkeiten, dazu gehört die Linguistik, perfekt dafür geeignet, bei diesem gewaltigen Prozess behilflich zu sein. Als weiterer Faktor kommt das immense Wachstum der Gemeinden hinzu, die die Gesamtgesellschaft, hoffentlich in allen Aspekten, positiv bereichern.
  
Was sind objektiv – administrative Ziele des Projektes ?
Wir sehen in den geplanten Kitas die große Chance, multikulturelle Begegnungsorte für die Kinder zu schaffen. Dabei wird eine christliche Werte-Orientierung auf Basis demokratischer und pluralistischer Werte vermittelt.
  
Weitere Etappen sind:
  
  1. Aufbau einer guten Basissprachkompetenz als Vorbereitung für den späteren Herkunftssprachunterricht (HSU). Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen fördert das Aramäische bereits über den HSU in der Schule.
  2. Hilfe zur Selbsthilfe, in Form von Beratung und Unterstützung weiterer Projekte ähnlicher Art.
  3. In die Zukunft blickend: die Gründung einer bilingualen Schule, ähnlich wie es bereits deutsch-griechische Gemeinden in Berlin gestalten.
 
Wie weit hat sich das Projekt bisher entwickelt?
Das Projekt hat sich trotz der widrigen Corona-Umstände positiv entwickelt. Aktuell sind wir dabei, bei mehreren Gemeinden orientalischer Christen in NRW eine KiTa aufzubauen. Dabei halten wir einen engen Austausch mit dem jeweiligen Vorstand der Gemeinde, mit den betroffenen Eltern, mit den Jugendämtern sowie Landesjugendämtern, mit Stadt-/Gemeinderäten usw. Konkrete Grundstücke bzw. Immobilien sind im Gespräch, ebenso die Aufnahme unserer Projekte auf die Tagesordnung beim jeweiligen Jugendhilfeausschuss. Es gibt derzeit drei Standorte, bei denen die Aussichten gut sind. Da die Gründung einer KiTa in mehreren Instanzen geprüft werden muss, benötigen die Projekte dementsprechend auch mehr Zeit, bis sie letztendlich umgesetzt werden können.  
 
Auf welche Barrieren seid Ihr gestoßen?
Zum einen erschwert uns der Immobilienboom in Deutschland, geeignete Grundstücke bzw. Gebäude zu finden. Eine KiTa steht und fällt mit der Immobilie, aber teilweise sind die Märkte wie leergefegt.
Zum anderen sind es politische und behördliche Entscheidungsträger, die hier und da ihre Bedenken und Vorbehalte äußern, weil das Thema Bilingualität Deutsch-Aramäisch sehr neu ist. Auch wird die aramäische Sprache als nicht so „prominent“ gesehen wie Englisch, Französisch und Spanisch.
Da sich die syrisch-aramäische Sprache in der Vergangenheit immer wieder als Brückenbauer bewiesen hat und wir ein offenes pädagogisches Konzept mit erfahrenen Pädagogen ausgearbeitet haben, sind wir guter Dinge, auch die letzten Kritiker von einer Win-win-Situation überzeugen zu können.
Uns ist es wichtig, auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Daher richten sich die aramäischen Sprachangebote in erster Linie an diejenigen, die Wurzeln in diesen Kulturraum haben. Die Kinder, deren Eltern sich jedoch nicht für das Aramäische interessieren, werden, wie bei anderen Trägern, in einer rein deutsch-sprachigen Gruppe betreut.
 
Wer unterstützt Euch?
Wir haben mehrere Pädagogen, Erziehungswissenschaftler, Sprachwissenschaftler und Erzieher, die uns ehrenamtlich unterstützen. Daneben gibt es Honorar-Fachkräfte, die wir engagieren und mit denen wir bereits seit längerer Zeit zusammenarbeiten.
Was die Aramäische Sprache betrifft, so berät uns bei diesem Projekt NISIBIN als wissenschaftliche Forschungsstelle für Aramäische Studien an der Goethe-Universität in Frankfurt. Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren neben der Sprache auch mit der Kultur, der Geschichte u.a. Themen.
  
Wie ist die bisherige Resonanz aus Politik und Kirche?
Die Resonanz der Syrisch-Orthodoxen Kirche ist bisher sehr positiv. Sie befürwortet unsere Arbeit und will uns dabei unterstützen, soweit es möglich ist. Die Politik auf lokaler Ebene reagiert unterschiedlich darauf, oft eher zurückhaltend. Aber es gibt auch positive Beispiele, wo die Politik unsere Aktivitäten befürwortet und unsere Arbeit begleitet.
Auch freuen wir uns auf das Interesse der katholischen/evangelischen Kirche für eine Zusammenarbeit in diesem Bereich.
  
Welche Unterstützung wünscht Ihr Euch und wie kann man Euch am besten dabei helfen?
Wir wünschen uns mehr Akzeptanz und mehr Vertrauen von den Behörden allgemein. Da wir noch neu und noch nicht etabliert sind wie das DRK, die AWO oder die Caritas, haben wir manchmal den Eindruck, dass man uns mit großer Skepsis begegnet. Wir arbeiten seit mehr als einem Jahr intensiv an dem Aufbau, ich sogar hauptamtlich. Auch wurde sehr viel eigenes Geld investiert, um die gemeinnützige Organisation professionell aufzustellen.
Von unseren Gemeinden wünschen wir uns noch mehr Aufmerksamkeit und finanzielle Unterstützung, auch wenn die erste KiTa noch nicht steht. Als gemeinnütziger Träger dient unsere Arbeit ihrem Selbstzweck: dem KiTa-Aufbau unter Einbeziehung der aramäischen Sprache. Es gibt keine Gewinnorientierung. Da ist jede finanzielle Hilfe von großem Wert, denn bekanntlich ist „aller Anfang schwer“.
Von den Politikern wünschen wir uns, dass Sie offen mit dem Thema umgehen und uns konstruktiv begleiten. Wir haben an manchen Orten einen großen Anteil an aramäisch-sprechenden Mitbürgern. Wir erwarten daher, dass auch deren Bedürfnisse erkannt und berücksichtigt werden. Dies gilt für alle Bereiche des Lebens, auch für den Bildungsbereich, sprich KiTas, Schulen etc. Wir werden mit unserer Arbeit, wie bereits anfangs erläutert, die soziale Gemeinschaft bereichern.
 
Saliba Gabriel, danke für die Zeit, die Sie sich für dieses Interview genommen haben. Wie wünschen Ihnen und Ihrem Projekt viel Erfolg für die Zukunft.
  
Daniela Hofmann
  

Wer das Projekt unterstützen möchte, kann mit Saliba Gabriel über mail@senfkorn-kita.de Kontakt aufnehmen. Weiteres ist auf der Webseite des Projektes zu erfahren. Das Portal ist auch jenen zu empfehlen, die sich rudimentär mit der aramäischen Sprache beschäftigen wollen. 

  

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Vorträge – Der ZOCD bietet verschiedene Vortragsreihen an, die sich mit gesellschaftsrelevanten Themen beschäftigten. Hier geht es zum Vortragsportal
 
Anfragen sind zu richten an: ZOCD, Frau Daniela Hofmann, Rechte Brandstr. 34, 86167 Augsburg, Tel. 089 24 88 300 52, info@zocd.de