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Autor: Dr. Berthold Gees
Ort: Deutschland
Format: Text
Thema: Politik, Gesellschaft, Minderheiten
Datum: 12.11.2020
Portal: www.zocd.de
Textdauer: 8 min.
Sprache: Deutsch
Titel: Religionskonflikte und Genozide im Mittleren und Nahen Osten
  
  

Religionskonflikte und Genozide im Mittleren und Nahen Osten

  
Frau Aida Schläpfer Al Hasani ist Regisseurin und Gründerin sowie Präsidentin des Vereins "International Arab Film Festival Zurich" und Co-Direktorin des Festivals. Sie studierte Kunst und Mediendesign in Zürich und Filmregie an der Akademie der Künste in Kairo und drehte danach Dokumentarfilme, u.a. über die christlichen Minderheiten im Irak. 2013 spielte sie die weibliche Hauptrolle in dem irakischen Spielfilm "Al Haj Nejim" von Amer Alwan.
Sie selbst ist Muslima und tritt für Religionsfreiheit und ein friedliches Miteinander der Religionen ein.
 
Frau Schläpfer, Sie sind Muslima und setzen sich dafür ein, dass der Genozid an den Christen des Nahen Ostens öffentlich so benannt und diskutiert wird. Was hat sie zu dieser Haltung bewegt?
Das Unrecht hat keine Religion und ist immer falsch, von wem und an wem es auch immer verübt wird. Wenn wir als Menschheit nicht damit aufhören, in Religionskategorien zu denken, werden wir die tiefen Gräben zwischen den verschiedenen Ländern, Kulturen und Religionen niemals überwinden können und somit niemals zu einem friedlichen und respektvollen Mit- und Nebeneinander gelangen. Kriege und Konflikte entstehen immer aus Angst und aus geschürtem Hass gegen einen vermeintlich brutalen und grausamen «Feind». Die Interessen einiger weniger Profiteure stehen meist diametral den Wünschen und Bedürfnisse Vieler gegenüber.
Wir müssen fragen und hinterfragen, welches ist denn die richtige Religion? Ist es der Islam, ist es das Christentum, der Buddhismus? Der Hinduismus? Ich denke, alle sind genauso richtig wie sie auch falsch sein können. Ich habe es am eigenen Leibe erfahren, was es heisst, flüchten zu müssen und unter Lebensgefahr zu stehen. Mein Vater musste seinerzeit aus dem Irak flüchten. Zuflucht hat meine Familie dann in der Heimat meiner Mutter im Libanon gefunden. Wir lebten mit den Christen friedlich nebeneinander. Ich war an einer Christlichen Schule. Die Christen im Libanon haben meiner Familie stets geholfen und uns unterstützt. Ich habe erlebt wie schön es sein kann, wenn Menschen, egal welcher Religion sie angehören, friedlich zusammenleben. Dafür lebe ich, und dafür setze ich mich ein.
  
Welche Hürden mussten Sie überwinden, um das Thema sowohl filmisch als auch gesellschaftlich zu behandeln?
Der Film entstand exakt in der Zeit als der IS (damals nannten er sich noch ISIS) im Eiltempo die Irakische Armee überrollte und große Gebiete und Kriegsmaterial einnahm und so immer stärker wurde. Der IS ist sunnitisch, ich jedoch bin Schiitin. Alleine diese Tatsache bedeutete für mich und mein Filmteam ein erhebliches Risiko. Wäre ich den IS Schergen in die Hände gefallen und hätte sie meinen Familiennamen erfahren, es wäre mein Todesurteil gewesen. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, das Vertrauen der Flüchtlinge zu gewinnen. 
  
Häufig wird im Westen behauptet, der Islam habe keine geisteswissenschaftliche und staatsrechtliche Epoche der Aufklärung erlebt. Würden Sie dem zustimmen?
Nein, dem kann ich so nicht zustimmen. Sehen Sie, als der Islam im 7. Jahrhundert gestiftet wurde war er quasi die Aufklärung der arabischen Gesellschaften der damaligen Zeit. In seinen Anfängen machte der Islam in vielen Bereichen enorme Fortschritte und hat einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Zivilisation geleistet. Diese Anfangsphase stellte quasi die geisteswissenschaftliche und staatsrechtliche Epoche des Islam dar. Vergleicht man diese Epoche mit dem Christentum in Europa so war der Islam viel fortschrittlicher und aufgeschlossener als das Christentum. Das steckte mitten im tiefsten Mittelalter fest und hat sich dann vom 13. bis ins 18 Jahrhundert hinein mit der Inquisition ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert. In dieser Zeit war der Islam toleranter und aufgeschlossener als das Christentum. Letztlich ist es ja nicht die Religion, sondern die Gesellschaft und darin die klugen Köpfe, die eine Aufklärung anstiessen. Wäre es nach der Kirche gegangen, dann wäre die Erde immer noch eine Scheibe, und die Sonne würde um die Erde kreisen.
Die Idee der Aufklärung war es ja, durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden. Gerade zu diesen gehören auch die Dogmen der Kirchen. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist die arabische und islamische Welt nie zur Ruhe gekommen. Immer wieder wurden die Menschen von endlosen Konflikten und Kriegen überzogen. In solchen Situationen sind die Menschen bestrebt, in erster Linie zu überleben. Gesellschaftliche oder religiöse Fragen sind da zweitrangig.
  
Die kriegerischen Auseinandersetzungen und religiös motivierten Übergriffe im Mittleren und Nahen Osten haben insbesondere auch im Zuge eines aktiven Militärengagements der US-Amerikaner zugenommen. War dies ein Zufall, oder tragen die US-Amerikaner Mitverantwortung?
Kriege geschehen doch niemals zufällig. Die USA sind stets bestrebt, ihre Interessen immer mit allen Mitteln durchzusetzen. Gerade die Rüstungsindustrie ist einer der größten Wirtschaftszweige der USA. Wenn keine Kriege stattfinden, dann geht es diesem Wirtschaftszweig nicht gut. 2003 wurde der Irak angegriffen. Begründet wurde es mit den Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins, die aber nie gefunden wurden. Kein einziger Iraker war an den Anschlägen des 11. September beteiligt. So auch bei allen anderen Terroranschlägen in Europa. Wieso wurde dann der Irak eigentlich bombardiert?
Nicht nur die USA tragen eine Mitverantwortung für das Leid des Nahen Ostens. Auch Deutschland und alle anderen Nato-Staaten sind ja mehr oder weniger direkt oder indirekt daran beteiligt. Wir müssen aufhören, die Nato als Verteidigungsbündnis anzusehen, denn das ist sie nicht! Seit der Auflösung des Warschauer-Pakts hat die Nato ihre Daseinsberechtigung verloren und hätte schon längst aufgelöst werden müssen. Seit 1989, dem Fall der Berliner Mauer und damit dann faktisch die Auflösung der Sowjetunion sind sämtliche Kriege auf die Kappe der Nato gegangen.
Gerade die Christen im Nahen Osten sind die Hauptleidtragenden dieser Kriege. Indem Länder wie Syrien oder der Irak vom Westen bombardiert werden macht man sie direkt dafür verantwortlich. Die Folge ist dann, dass die Christen angegriffen, bedroht und schikaniert werden. Sie werden zur Flucht gezwungen. Dasselbe geschieht, wenn man grundsätzlich alle Moslems und den Islam für alle Terroranschläge in Europa, wie dies derzeit in Frankreich der Fall ist, verantwortlich macht. Die Repressionen gegen die Christen nehmen so stets zu.
  
Sehen Sie Gefahren für die Innere Sicherheit in Europäischen Ländern, wenn eine zu hohe Anzahl von Muslimen das Aufenthaltsrecht gewährt wird.
Nicht die Anzahl der Muslime ist die Gefahr. Welche Gefahr soll von Menschen ausgehen die wirklich geflohen sind um ihr Leben und das ihrer Familie zu retten? Ist denn die Diskussion nicht falsch angesetzt? Muss man nicht endlich mal anfangen, die richtigen Fragen zu stellen? Wieso flüchten die Menschen aus dem Irak, aus Syrien, aus Afrika? Wieso flüchten sie nicht aus Deutschland, aus der Schweiz aus den USA? «Flüchtlinge sind ja eh alles arbeitsfaule Menschen, die nur unser Sozialsystem ausnutzen wollen oder dann sind da Afrikaner, die mit Drogen handeln» das ist doch das Bild, das man über Flüchtlinge hat. Sehen sie, als ich den Film NouN 2014 gedreht habe, ist mir bei allen Flüchtlingen dasselbe aufgefallen. Sowohl bei den Erwachsenen als auch bei den Kindern. Sie wollen nichts lieber als in Frieden und in Freiheit leben. Das können sie aber nicht, wenn sie entweder von Bomben, das sind dann vorwiegend die Bomben des «Westens» oder von Radikal-Fundamentalen Religionsfanatikern bedroht werden. Niemand will sein Leben, seine Freunde sein Land und seine Wurzeln aufgeben, um die Gefahr einer Flucht auf sich zunehmen. Es ist ja nicht so, dass das eine lustiger Familienausflug ist. Traurig ist, dass sowohl hüben wie drüben auf dem Rücken der Flüchtlinge eine menschenverachtende Politik betrieben wird. Es ist zynisch, dass man Jahrzehnte mit Despoten und Diktatoren gute Geschäfte macht und sie gewähren lässt und dann, quasi von einem Tag auf den anderen, sind sie nicht mehr erwünscht. Dann setzt die ganze Kriegs-Rhetorik ein und plötzlich geht es um Demokratie und Menschenrechte. Wieso kümmert sich denn niemand um die Menschenrechte und um die Demokratie in Saudi-Arabien? Dort wird Kindern, die aus Hunger ein Stück Brot stehlen, die Hand abgehackt. Ich wünschte mir gerade hier bei uns in der Schweiz und in Deutschland, dass die Menschen ihren Unmut kundtun und wieder gegen Kriege auf die Strasse gehen, so wie damals gegen den Vietnamkrieg. Wenn wir Kriege vermeiden, dann vermeiden wir Leid und Elend und damit auch Flüchtlinge.
Ihre Frage bezieht sich vermutlich auf die Gefahr hin, dass mit den großen Flüchtlingsströmen auch fundamentalistische Fanatiker sein können die hier bei uns Anschläge verüben. Nun, das ist durchaus möglich ja sogar sehr wahrscheinlich. Das könnte eine Taktik des IS sein den Krieg auch noch Europa zu tragen. Deshalb sind wir als Bürger gefordert. Die Kriege nutzen ja nicht uns, sondern Rüstungskonzernen und sonstigen Interessensgemeinschaften. Menschen und Völker wollen keine Kriege, sie werden in diese getrieben.
  
Was würden Sie der internationalen Staatengemeinschaft raten, insbesondere mit Blick auf muslimische Länder, um die Verfolgung von religiösen Minderheiten zu verhindern?
Die Verfolgung von Minderheiten hat System und kommt ja nicht so zufällig zustande. Nehmen wir die Türkei als Beispiel. 1915 hat das damalige Osmanisch Reich 2-3 Millionen Christen, Suryoye, Armenier und Griechen verfolgt und in diesem Ausmass das erste Mal in der Geschichte, den Seyfo, also den Völkermord begangen. Wie hat der Westen reagiert? Wie hat Deutschland reagiert? Gar nicht! Der deutsche Botschafter, deutsche Konsularbeamte und deutsche Generäle waren vor Ort. Die Deutschen können also nicht einmal sagen, sie hätten nichts davon gewusst. Gerade weil die Welt nicht auf den Seyfo von 1915 reagiert hat konnten die Nazis die Gräuel des 2. Weltkriegs begehen. Man kann solches Unrecht nur verhindern, wenn die Menschheitsfamilie aufsteht und gegen solche Grausamkeiten protestiert. Von den Politikern können und dürfen wir nichts erwarten. Sie sind Wendehälse und Opportunisten. Sie richten sich stets nach dem Wind. Erst wenn der Gegenwind aus der Bevölkerung groß ist dann werden sie Ihre Segel danach ausrichten!
Würden Politiker nach dem oft falsch zitierten Adenauerzitat: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden.“ handeln hätten wir jetzt schon das Paradies auf Erden, frei von Kriegen und frei von Unrecht.
  
Was sind Ihre Pläne für die nähere Zukunft?
Als ich den Kurzfilm NouN 2015 in Zusammenarbeit mit Minority Rights Group International gedreht habe ist mir klar geworden, dass ich diese Geschichte tiefer erzählen muss. Den Kurzfilm haben wir gerade vor einem Monat auf YouTube gestellt, und er ist jetzt frei zuganglich - mit englischem Untertitel hier und mit deutschem Untertitel hier. Es ist mir ein grosses Anliegen, dass möglichst viele Menschen den Film sehen. Obwohl man meinen könnte, die ganze Welt habe derzeit nur ein Problem; die Menschen im Nahen Osten haben nach wie vor mit vielen Problemen zu kämpfen. Verfolgung, Hunger, Kälte und Krankheiten gehören gleichermassen zu ihrem Alltag wie die kriegerischen Handlungen, die ja ununterbrochen weitergegangen sind, immer noch weitergehen. Da hat Niemand einen «Lockdown» beschlossen!
Die lange Version des Films hat den Titel «Souls In Transit» und steht kurz vor der Vollendung. Leider konnte ich in diesem Jahr nicht nach Ägypten reisen um dort die noch fehlenden Arbeit abzuschließen.
Dann steht jetzt auch noch vom 19. Bis 29. November das Internationale Arabische Filmfestival Zürich bevor. Wir hoffen, dass wir es zumindest im heute gültigen und sehr eingeschränkten Rahmen, durchgeführt werden kann.
  
Vielen Dank für Interesse und für Ihre spannenden Fragen.
 
Berthold Gees
12.11.2020
 
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