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Autor: Berthold Gees
Ort: Schloß Holte-Stukenbrock, Deutschland
Format: Text
Thema: Politik, Gesellschaft, Religion, Extremismus,
Datum: 27.10.2020
Portal: www.zocd.de
Textdauer: ca. 10 Minuten
Sprache: Deutsch
Titel: Pulverfass Bergkarabach – Wieso der Konflikt um Nagorni Karabach mehr als ein regionaler Konflikt ist!

Pulverfass Bergkarabach
Wieso der Konflikt um Nagorni Karabach mehr als ein regionaler Konflikt ist!
Nagorni Karabach liegt mitten im Staatsgebiet von Aserbaidschan. Völkerrechtlich gehört die Region zu Aserbaidschan. Die Enklave ist jedoch mehrheitlich von Armeniern besiedelt, welche die Region als ihr Siedlungsgebiet reklamieren! Das autonome Gebiet wird durch die Republik Arzach repräsentiert. das sich jedoch als ihre Schutzmacht betrachtet.
Seit mehr als 100 Jahren kommt es zwischen den Menschen in Bergkarabach zu gewalttägigen Übergriffen, Massakern und Kämpfen. Schwerste Auseinandersetzungen fanden von 1991-1994 statt. Dabei wurden ca. 30-50 Tsd. Menschen getötet, mehr als 1 Mio. mussten fliehen.
Seit September dieses Jahres sind erneut massive Kampfhandlungen ausgebrochen. Der 1994 mühsam unter Vermittlung der OSZE-Minsk-Gruppe erzielte Waffenstillstand wird jetzt erneut gravierend verletzt. Ein Ende der Kampfhandlungen ist nicht in Sicht. Beide Seiten sind hochgerüstet und kriegsentschlossen. Vermittlungsversuche von Russland und den USA blieben bislang ergebnislos.
In diesem Krieg geht es nicht nur um die Regelung der territorialen und ethnischen Ansprüche im Rahmen des Bergkarabach-Konflikts. Die Vorherrschaft in der Kaukasusregion spielt eine Rolle, außerdem Öl- und Gasinteressen. Dieses Mal könnte der Konflikt auch Russland, die Türkei, Israel und den Iran beeinträchtigen.
Die Türkei hat schon vor geraumer Zeit jede Zurückhaltung in der Kaukasusregion aufgegeben. Wiederholt sicherte Präsident Erdogan den ethnisch verwandten Azeris uneingeschränkte politische und militärische Unterstützung zu. Erst im Juli dieses Jahres fanden gemeinsame militärische Manöver statt. Die Armenier interpretierten das als heftige Drohgebärde. Im aktuellen Konflikt unterstützt Erdogan Aserbaidschan mit Söldnern und Waffen.
Eine besondere Bedrohung geht vom Einsatz dschihadistischer Söldner aus. Die Türkei hatte solche Glaubenskrieger aus dschihadistischen Gruppen in Syrien rekrutiert und bereits erfolgreich in anderen Schattenkriegen eingesetzt, u.a. in Libyen. Die sunnitisch salafistischen Dschihadisten kämpfen nicht nur für Geld sondern auch für die Verbreitung ihres Glaubens. Das ruft bei den Armeniern traumatische Erinnerungen wach. Sie sehen sich mit der Gefahr einer Neuauflage des Genozids von 1915 konfrontiert, als muslimische Jungtürken die christlichen Armenier mit Vernichtung, Tod und Verderben überzogen. Bislang war der Bergkarabach-Konflikt kein religiöser Konflikt. Jetzt scheint sich dies unter türkischem Einfluss schrittweise zu ändern.
Auch für Russland sind die syrisch-stämmigen Söldner und Glaubenskrieger gefährlich. Sie stärken ihre nordkaukasischen Glaubensbrüder mindestens moralisch. Derzeit sind diese Dschihadisten noch in Afghanistan aktiv. Das könnte sich aber sehr schnell ändern, wenn die Azeris zu stark unter den Angriffen der von Russland unterstützten Armenier leiden. Wie ernst Russland diese Entwicklungen nimmt dokumentiert eine Personalie. Erst kürzlich wurde der hochrangige Militärbeamte Sergei Melikow zum Regierungschef der an Aserbaidschan angrenzenden Republik Dagestan ernannt. Melikow war eine der zentralen Personen der russischen Terrorismusbekämpfung. Er stammt nicht aus der Region, sondern aus dem russischen Staatsapparat.
Der Türkei geht es seit längerer Zeit wirtschaftlich schlecht. Die türkische Lira erlebt gerade eine beispiellose Talfahrt. Die wirtschaftlich fetten Jahre sind lange vorbei. In der Vergangenheit konnte Erdogan mit einer starken Wirtschaft punkten. Jetzt muss der Autokrat Stärke demonstrieren, um von den innenpolitischen Problemen abzulenken.
Mit Aserbaidschan gibt es wenig Probleme. 2006 wurde die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline, auch BTC-Pipeline genannt, in Betrieb genommen. Über die BTC-Pipeline wird Rohöl von den Ölfeldern Aserbaidschans und Kasachstans, vorbei am Iran und Russland, ins türkische Ceyhan gepumpt. Die EU war seinerzeit mit Geldern der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung am Pipelinebau beteiligt. Der Westen sollte vom russischen und iranischen Erdöl unabhängiger werden.
Parallel zur BTC-Pipeline wurde damals die Südkaukasus-Pipeline (SCP) von Baku über Tiflis (Georgien) nach Erzurum (Türkei) verlegt. Mit der SCP-Pipeline wird Erdgas aus dem Kaspischen Meer in die Türkei transportiert. Über die Transanatolische Pipeline (TANAP) und die Trans-Adria-Pipeline (TAP) wird der begehrte Energielieferant bis nach Griechenland und Italien weitergeleitet.
Außerdem bemüht sich die Türkei intensiv, mit eigenen Öl- und Gasexplorationen ihre Abhängigkeit von (russischen) Erdöl- und Erdgasimporten zu verringern. Für den Mittelmeerraum und Europa möchte sie zu einem Drehkreuz für Energieversorgung werden. Eigene aggressive Explorationen im Mittelmeerraum, z.B. nahe Zypern, unterstreichen diesen Kurs.
Nato und EU haben den gefährlichen Eskapaden des türkischen Präsidenten wenig entgegenzusetzen. Man ist von Erdogan abhängig. Wichtigster Pluspunkt für ihn: Noch immer leben ca. 3,6 Mio. Flüchtlinge in türkischen Flüchtlingslagern. Er hält der EU und speziell Deutschland die Flüchtlinge für viel Geld vom Hals. Mit weiterer unkontrollierter Masseneinwanderung wären die meisten europäischen Ländern innenpolitisch überfordert.
Erdogan nutzt also die Gunst der Stunde, um seine panturkistischen Ideen als bedeutendste Regionalmacht der Region durchzusetzen. Anfang der 90er Jahre war er gegenüber Russland gescheitert. Es fehlte an Ressourcen. Die Abhängigkeit von Russland erschien zudem zu groß. Russland selbst steckt in einer Zwickmühle. Das Land ist noch immer stark auf den Export von Öl und Gas angewiesen. Der internationale Preisverfall für Öl und Gas sowie Sanktionen halten das Land in permanentem Krisenmodus. Ganz einfach könnte man auf die Türkei als Abnehmer von Öl und Gas nicht verzichten. Deshalb geht man nicht allzu ruppig mit dem aggressiven Handelspartner um. Auch die Türkei ist abhängig. Sie muss sich hüten, die Russen allzu sehr zu düpieren. Zudem kooperiert man in Syrien.
Armenien und Russland sind seit langer Zeit verbunden. Die Russen dominieren wichtige wirtschaftliche Schlüsselbereiche in Armenien. Der größte militärische Stützpunkt der Region liegt dort. Russland hat Armenien für den Kriegsfall Beistand zugesagt.
Von Armeniens Präsident Nikol Pashinyan hörte man 2018 im Zuge seiner Amtsübernahme noch andere, deutlich russlandkritischere Töne. Nicht zuletzt diese Haltung hatte ihm die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung eingetragen. Jetzt muss aber auch er einsehen, dass man auf Russlands Einfluss und Hilfe nicht verzichten kann. Die wirtschaftlichen und militärischen Zwänge sind zu stark. Außerdem sind derzeit nur die Russen in Sicht, welche den Armeniern für den Fall eines zu starken Vordringens der Azeris militärisch beistehen wollen. Ein Großteil der armenischen Waffen stammt aus Russland.
Von den Azeris waren die russischen Waffenlieferungen stets mit Argwohn verfolgt worden. Die Russen hatten sich deshalb auf Waffendeals mit den Azeris eingelassen, um mindestens symbolisch keine Feindschaft zu Aserbaidschan dokumentieren. Russland ist damit der wichtigste Waffenlieferant für Armenien und Aserbaidschan.
Zusätzlicher politischer Sprengstoff geht von Israelis und Iranern aus
Die agilen Israelis kooperieren seit 1991 mit Aserbaidschan, um die Öl- und Gaslieferungen des Landes zu nutzen, aber auch um gegen den Iran zu agieren, von dem eine massive Bedrohung für Israel ausgeht. Der Deal lautet: Rohstoffe für Militärtechnologie und Waffen.
Auf die Azeris können sich die Israelis verlassen, weil diese bereits vor geraumer Zeit mit ihren schiitischen Glaubensbrüdern im Iran gebrochen hatten. Die Begehrlichkeiten des Irans auf Öl und Gas in Aserbaidschan schienen höchstproblematisch. Auch deshalb ging man auf eine militärische Kooperation mit den Israelis ein. Nach einem Waffendeal 2016 hatten der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der aserbaidschanische Präsident Aliyev ein Abkommen unterzeichnet, welches es israelischen Kampfflugzeugen ermöglicht, im Falle eines Krieges aserbaidschanische Flughäfen zu nutzen, um z.B. iranische Nuklearanlagen anzugreifen. Auch der Mossad soll den Iran mit einer eigenen Station von Aserbaidschan aus ausspionieren.
Inzwischen ist die Abhängigkeit Israels vom azerischen Öl jedoch deutlich gemildert. Israel hat ein Abkommen mit Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten geschlossen. Damit ist das Land nicht mehr vorrangig auf das Öl aus Aserbaidschan angewiesen. Auch könnten israelische Luftwaffenstützpunkte in beiden Staaten errichtet werden. Aber so weit ist es derzeit noch nicht.
Armenien hatte in jüngster Zeit versucht, offizielle diplomatische Beziehungen mit Israel aufzubauen. Der armenische Botschafter wurde jedoch schon nach wenigen Wochen wieder abgezogen und die Botschaft geschlossen, nachdem das starke militärische Engagement Israels im Bergkarabach-Konflikt zugunsten Aserbaidschans deutlich geworden war. Es war bekannt geworden, dass von Odva in Südisrael mehrere Transportmaschinen mit Waffenlieferungen nach Baku geflogen waren. Auch die bis zu 10 Tsd. in Israel lebenden Armenier, viele davon Nachfahren der 1915 vom Völkermord Betroffenen, konnten die Entscheidung der armenischen Regierung nicht rückgängig machen.
Für den Iran ist die Lage ebenfalls prekär. Das Land unterhält enge Beziehungen mit den christlichen Armenien, nachdem man sich mit Aserbaidschan wegen Ölinteressen überworfen hatte. Die Problematik besteht in der ethnischen Zusammensetzung der iranischen Bevölkerung. Ca. ein Drittel davon hat azerische Wurzeln. Auch der oberste Religionsführer Ali Khamenei hat azerische Ursprünge. Die Azeris sind zudem stark im iranischen Militär und in den Bazaren vertreten.
Schon soll es zu Solidaritätsdemonstrationen der azerisch-stämmigen Bevölkerung im Iran gekommen sein, die wohl von den offiziellen politischen Machthabern mit Gewalt aufgelöst wurden. Viel problematischer aber könnte das Streben der im Iran lebenden Azeris nach Autonomie sein. Der Bergkarabach-Konflikt könnte viele von ihnen motivieren, sich zugunsten ihrer Brüder und Schwestern in Aserbaidschan zu engagieren. Zudem glauben viele iranische Azeris, dass die wirtschaftlichen Perspektiven im Nachbarland besser wären.
Eine Lösung des Konflikts scheint derzeit also nicht in Sicht. Zu vielfältig sind die Interessen und das mangelnde Engagement der internationalen Mächte. Die EU, darunter Frankreich und Deutschland, sind zwar in der Region aktiv, haben aber wohl nicht den politischen Willen, sich nachhaltig zu engagieren, auf keinen Fall militärisch. Die US-Amerikaner sind nach ihren Erfahrungen im Mittleren und Nahen Osten wenig begeistert, sich erneut auf unkalkulierbare militärische Abenteuer einzulassen. Russland möchte seine hegemoniale Stellung in der Region bewahren, ist aber historisch und aktuell ein wenig glaubhafter Moderator. Israel und Iran sind stark mit sich selbst beschäftigt, zudem jeweils auf den kriegführenden Gegenseiten engagiert.
Es sind die Menschen in Armenien und Aserbaidschan, welche die schrecklichen Folgen dieses Konflikts tragen müssen.
Berthold Gees, 27.10.2020
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