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Autor: Simon Jacob
Ort: Augsburg, Deutschland
Format: Text
Thema: Politik, Gesellschaft, Religion
Datum: 23.05.2021
Portal: www.zocd.de 
Textdauer: ca. 10 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Möge Allah Dich in die tiefste Hölle schicken
 
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Möge Allah Dich in die tiefste Hölle schicken

 
Seite 35, Abschnitt Mitte:
 
„… Meine Eltern hatten uns nahegelegt, unsere Religionszugehörigkeit nicht nach außen zu zeigen, und das funktionierte für mich sehr gut. So spielte das Thema keine Rolle in unserem Alltag, in dem es für mich auch wirklich wichtigere Dinge gab. Fußball zum Beispiel. Das änderte sich an einem einzigen Tag: dem 11. September 2001. Nach dem schrecklichen Anschlag auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington wurde ich plötzlich als Muslim wahrgenommen. Ich wurde von meinen Klassenkameraden in der Schule beschimpft und beleidigt. Selbst ein Lehrer sagte zu mir: > Schau mal was deine Leute da gemacht haben. < Meine Leute? Mein Deutsch war damals in der Hauptschule noch zu schlecht, um etwas wirklich Gehaltvolles erwidern zu können. Dabei hätte ich mich gerne gewehrt und verteidigt, denn was hatte ich mit diesen Terroristen zu tun? Von diesem Tag an merkte ich, dass man als Muslim – egal, wie man zur Gewalt steht oder wie man den Koran auslegt, pauschal kritisch beäugt, verachtet und sogar gehasst wird…“ 
 
Hassan Geuad kam als Kriegsflüchtling mit seinen Geschwistern und der Mutter im Rahmen des Familiennachzug, der Vater lebte bereits in Deutschland, nach dem zweiten Golfkrieg in seine neue Heimat. Hassan ist Schiit, Muslim, Flüchtling, Reformer, Filmemacher, Visionär, Kritiker, ein Mensch der fähig zur Selbstreflektion ist. Seine Methoden sich zu äußern, zu hinterfragen, Kritik zu üben, sind frei von Populismus, Extremismus, Beleidigungen, Anfeindungen oder irgendeiner anderen Art überspitzer Bemerkungen, die man als fragwürdig erachten kann. Was er als Student der Medienwissenschaften nutzt, sind die modernen Kommunikationsmittel, künstlerisch in Form und Bildern dargestellt, um seiner Kritik Ausdruck zu verleihen. Hassan Geuad ist ein Freund, den ich wegen seines Intellekts, seiner Ehrlichkeit, seiner höflichen Art wertschätze. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind, so bin ich doch froh darüber, dass er eine Meinung hat, über die wir leidenschaftlich diskutieren können.
 
Die eingangs erwähnte Passage aus seinem aktuellen Buch – MÖGE ALLAH DICH IN DIE TIEFSTE HÖLLE SCHICKEN – ist die für mich prägendste und am intensivsten mahnende zugleich. Die Terroranschläge vom 11. September wurden von radikalen Salafisten begangen. Hassan ist Schiit. Salafisten lehnen die Lehre des Schiitentums ab und stehen damit im kriegerischen Konflikt mit Hassans Glauben. Doch die Terroranschläge auf die New Yorker Zwillingstürme führten zu einer Sichtweise gegenüber dem Islam im Allgemeinen, die bei vielen ein Pauschalurteil hervorrief, welches noch bis heute anhält. Die zahlreichen weiteren Konflikte, angefangen vom Afghanistankonflikt bis hin zum Entstehen des IS, verhärteten die Fronten auf allen Seiten und teilten die Welt indirekt, was die Dogmatik sowohl des radikal – politischen Islams als auch anderer autoritärer Strukturen ist, in eine subtil christliche und subtil muslimische Welt. Mit fatalen Folgen. Ich selbst war als junger Mann schockiert von den Anschlägen in New York. Geprägt durch mein Elternaus, mit einem negativen Bild über den Islam im Kopf - in meiner ursprünglichen Heimat im südostanatolischen Raum der Türkei wurde man als Christ lokal von Muslimen als Bürger zweiter Klasse betrachtet - neigte auch ich zu einer Pauschalisierung. Doch bin ich auch hier in Deutschland mit Muslimen groß geworden, welche mir die verschiedenen Sichtweisen ihres Glaubens näherbrachten und mir somit die Chance gaben, zu differenzieren. Zwischen den einzelnen Strömungen, angefangen bei den Mystikern und Derwischen des Sufismus bin hin zum Wahhabismus Saudi Arabiens, gibt es Unterschiede wie Tag und Nacht. Und dennoch haben die Anschläge, zumindest ideologisch, etwas mit Religion zu tun. Was allerdings nicht bedeutet, dass alle Muslime dafür verantwortlich sind. Jedoch wurde genau dieser Eindruck als tragische Folge der Terrorakte erweckt, was das spalterische Ziel dschihadistischer Organisationen ist. Ein etwas tieferes Verständnis für die verschiedenen Strömungen im Islam sowie die kulturellen Spezifikationen und ethnischen Ursprünge, spricht gegen solch eine Pauschalisierung. Ähnlich könnte man nun auch argumentieren, dass das katholische Spanien, im Namen des Glaubens, ganze Völker in Südamerika vernichtet hat und demzufolge auch Urchristen aus dem Nahen Osten, die damit so wenig zu tun haben wie ein Autokrat mit der Demokratie, ebenfalls schuldig sind. Sind sie nicht! Und dennoch wirft man auch den Urchristen, da spreche ich jetzt aus eigener Erfahrung, denn ich bin Mitglied dieser Gemeinschaft, vor, dass „unsere“ Kirche im Namen Gottes Südamerika ausgebeutet habe. Dass chronologisch, ethnisch, territorial und theologisch ganze Welten zwischen der Syr.-Orthodoxen Kirche (der ich angehöre) und der katholischen Kirche liegen, jedenfalls damals, kommt selbst manch hochgebildeten Akademiker in Deutschland, aber auch dem Mittelschichtseuropäer, der kein Interesse an Religion hat, kaum in den Sinn. Tragischer ist allerdings die Tatsache, dass Islamisten im Nahen Osten die wenigen verbliebenen Christen tatsächlich als Kollaborateure der „Kreuzritter“, des „Weißen Mannes“, des „Teuflischen Westens“ betrachten und diese dadurch in der Gänze ebenfalls fast vertrieben wurden.
 
Infolge vieler Terrorakte versuchen muslimische Communities, so zumindest meine Erfahrung, sich von den Attentätern abzugrenzen. Doch oft fällt ihnen das schwer, weil der einfache Gläubige nur seinem einfachen und rudimentären Glauben nachgeht. Dieser kennt sich nicht unbedingt so gut aus mit den heiligen Schriften, weiß keine Hadithen zu deuten und versucht, so die Mehrheit der Muslime, nur sein Leben zu leben. Doch gerade dieser Zustand führte und führt zu einer toxischen Kombination. So wie einst Luther den Ablasshandel der von Rom geleiteten Kirche kritisierte, so fragen sich auch junge Muslime, ob und was sich im Laufe der Zeit in der eigenen Religion falsch entwickelt hat. Und genau das tut Hassan Geuad. Mit einem Eifer und Mut, der ihn auch in Gefahr bringt. Doch, und da bin ich mir sicher, ist sich Hassan dieser Bedrohung bewusst. Er gibt trotzdem nicht auf Fragen zu stellen und Reformansätze zu definieren. Dies auf eine friedliche, aber dennoch spektakulär visuell inszenierte Art, im Besonderen unter dem Label „12thMemoRise“ und dem dazugehörigen YouTube-Kanal, die ich respektiere. Besonders die in der ARD erschienene Dokumentation „Glaubenskrieger“, Gewinner des ARD Doku – Wettbewerbs 2017, ist sehenswert, wenn man mehr über das visuell – kreative Schaffen der Gruppe 12thMemoRise erfahren möchte.
 
Aber warum macht Hassan, dieser junge und talentierte Mensch, sich all die Mühe, um Aufklärung zu betreiben? Ich kann mir nur vorstellen, so wie ich ihn und seine Freunde kenne, dass es ihm und seinen Mitstreitern darum geht, die nicht mehr zeigemäßen Glaubens-Interpretationen der eigenen Religion zu überwinden - eben in der „Aufklärung“, so wie es auch der Westen erlebt hat - im Verhältnis zum christlichen Glauben allerdings in einer völlig anderen Geschwindigkeit, unter Nutzung medial explosiver, stilorientierter Mittel und mit der glühenden Leidenschaft künstlerischen Schaffens. Sein Hauptziel ist es, und das ist mehr als ersichtlich, seine eigenen Glaubensgeschwister mit kritischen Themen zu konfrontieren, um sie zur Selbstreflektion zu bewegen – verbunden mit der Hoffnung, sie erstens aus der Opferrolle zu holen, in der sich viele muslimische Verbände allzu gern bewegen, zweitens, die Muslime durch selbstkritische Ansätze vor Pauschalisierung zu schützen, und drittens, sich der eignen Verantwortung bewusst zu seine und diese auch zu tragen, um rechten Tendenzen und Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dafür wird der Autor des Buches intensiv angefeindet und explizit mit Gewalt und einem, von den Taten des Islamischen Staates inspirierten, grausamen Tod, bedroht. Und dennoch ist Hassan Geuad gewillt, diesen hohen Preis zu bezahlen.
 
In seiner aktuellen Publikation, erschienen beim Westend-Verlag, durchlebt man die Stationen des jungen Menschen, der eine schöne Kindheit in Bagdad, gefolgt von Krieg, Flucht, Bombenangriffe, Angst und Leid erfahren hat. Er stellte sich, mit seinen Geschwistern, einem harten Integrationsprozess, in dem er schnell die deutschen Sprache erlernt. Viele Beschreibungen in seinem Werdegang ließen mich fast in Tränen ausbrechen. Besonders wenn er davon spricht, wie viel Angst seine Mutter bei der Flucht aus dem Irak hatte und die Kinder nicht verstanden was vor sich ging. Oft musste ich aber auch lachen, z.B. als Hassan davon erzählt, wie die ganze Familie vor dem Fernseher saß und aufgrund gezeigter erotischer Szenen im Abendprogramm, welche im Westen als harmlos gelten aber in der nahöstlichen Welt problematisch sind, jeder nach der Fernbedienung suchte, um voller Schamesröte, stillschweigend und nichtssagend den Sender zu wechseln. Er berichtet darüber, wie der ältere Bruder Muhammed, der König der Murmelspieler, auf dem Spielplatz, umgeben von anderen Migrantenkindern, die ihm seinen Titel abjagen wollten, seinen Murmelbeutel füllte. In diesem Buch geht es um mehr als nur Religion, Integration, Gesellschaft oder Politik. Es geht um Veränderung, Selbstreflektion, Reformation, gepaart mit dem freien Willen des Individuums, wie es in einer nahöstlich – patriarchalischen Gesellschaft nicht existiert, kritische Fragen stellen zu dürfen.
 
Das tut der Autor zur Genüge. Und zwar in einer Intensität, die zum einen von anderen Muslimen, auch jenen, die in Deutschland politisch aktiv sind, augenscheinlich als Gefahr angesehen, und zum anderen von westlichen Akteuren, von oben herabblickend, mit einer besorgniserregenden Gleichgültigkeit als unnötig betrachtet wird. Ich konnte das persönlich bei Veranstaltungen, in denen Hassan Kritik äußerte, miterleben. Leider erfuhr er nur geringe Unterstützung. Diese Erfahrungen sind nun Jahre her. Dass Hassan z.B. die extrem politisch–religiös angespannte Situation im Migrantenmilieu, in Form von Hasspredigern, die klar und deutlich antisemitisch ausgerichtet sind, ansprach, mag seine Kritiker von damals Lügen strafen, wenn man dieser Tage, im Jahr 2021, die antisemitischen Demonstrationen auf den Straßen erlebt. Dass er damals so mutig war das Thema Homosexualität, Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, den Umgang mit dem Aufruf zur Gewalt in die Runde zu werfen, zeugt von einer Weitsicht, die ich vielen „einheimischen“ Experten und Talkrundenteilnehmern dieser Republik inzwischen zutiefst abstreite, egal wie lang ihr Studium andauerte oder noch andauern mag. Umso mehr respektiere ich den Mut, mit dem er dieses Werk erschaffen hat. Auf Seite 172 schreibt er, ich zitiere:
 
„.. Ich weiß, dass auch in Deutschland über viele dieser Themen (gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Ehen, Gleichstellung von Mann und Frau…) lange diskutiert und gestritten wurde. Auch hier gibt es konservative Kräfte wie die katholische Kirche, die sich mit gleichgeschlechtlichen Ehen oder der Gleichstellung der Frau genauso schwertut wie ein konservativer Imam, der seinen Blick lieber auf die alten Schriften richtet als auf die Gläubigen und ihre aktuellen Sorgen und Probleme. Der Unterschied aber ist, dass über diese Themen und Fragen in Deutschland offen gesprochen werden kann. Diese offene Debatte wünsche ich mir für uns Muslime, und selbst wenn ich weiß, dass wir für all diese schwierigen Themen wahrscheinlich viele dicke Bretter bohren müssen, möchten wir mit 12thMemoRise die Bohrspitze sein, die diese dringende Debatte anschiebt…“
 
Damit erfüllt er, kritisch gegenüber Orient und Okzident, gewissermaßen das, was eigentlich Verbände, finanziert durch politische Unterstützung in Deutschland, leisten sollten. Die Kapazitäten, die Hassan und seine Mitstreiter auf die Waage bringen, gleichen einem Sandkorn im Verhältnis zu einem gigantischen Berg. Und dennoch kann dieses eine Sandkorn das Getriebe zum Stottern bringen.
 
Meines Erachtens nach hat 12thMemoRise genau das erreicht. Mich, als gläubigen Christ, hat er jedenfalls, so wie viele andere junge Menschen (Muslime, Christen, Atheisten…) weltweit, die auch nur ein normales Leben führen möchten, erreichen und verändern können.
 
Und dafür möchte ich nicht nur Hassan Geuad danken, sondern auch all seinen Mitstreitern, die nie die Hoffnung aufgegeben haben und an die Idee dieses leidenschaftlichen und charismatischen Menschen glaubten und weiterhin glauben. 
 
Ich tue es, mit dem Wunsch verbunden, dass auch Politiker, Institutionen und im Besonderen Medien dies ebenfalls tun.
 
Simon Jacob
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Vorträge – Der ZOCD bietet verschiedene Vortragsreihen an, die sich mit gesellschaftsrelevanten Themen beschäftigten. Hier geht es zum Vortragsportal
 
Anfragen sind zu richten an: ZOCD, Frau Daniela Hofmann, Rechte Brandstr. 34, 86167 Augsburg, Tel. 089 24 88 300 52, info@zocd.de