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Autor: David Fuhrmann
Ort: Deutschland
Format: Text
Thema: Gesellschaft, Religion
Datum: 22.06.2020
Portal: www.zocd.de
Textdauer: 10 min.  
Sprache: Deutsch
Titel: Menschenrechte im Islam
  
  

Menschenrechte im Islam

  

Professor Dr. Christine Schirrmacher ist eine der bekanntesten Islamwissenschaftlerinnen im deutschsprachigen Raum und habilitierte 2012 im Fachbereich Islamwissenschaften an der Universität in Bonn zum Thema „Es ist kein Zwang in der Religion (Sure 2.256). Der Abfall vom Islam im Urteil zeitgenössischer Literatur.“ Als wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Islamfragen beschäftigt sie sich mit dem Islam in Europa, seiner weltweiten theologischen Entwicklung und den Gefahren des Islamismus.  
  

Frau Schirrmacher, welchen Stellenwert haben Christen, Juden und Atheisten im Islam?

Die Stellung von Nicht-Muslimen in islamisch geprägten Gesellschaften orientiert sich bis heute an der Praxis Muhammads, des Verkünders des Islams auf der Arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert n. Chr.: Juden und Christen erkannte er zwar als „Buchbesitzer“ an, allerdings hatten sie aus seiner Sicht ihren Glauben verfälscht und machten sich schuldig, als sie den Islam nicht annehmen wollten. In den nachfolgenden Jahrhunderten, während der islamischen Eroberungen, mussten sie meist nicht konvertieren, sondern konnten ihren Glauben in einem eng gesteckten Rahmen praktizieren: Sie wurden zu „Schutzbefohlenen“ und mussten Sondersteuern entrichten, die Zeichen ihrer Unterwerfung waren. Gleichberechtigt waren sie also nie und sind es bis heute in islamisch geprägten Gesellschaften nicht.
Zudem sind sie wirtschaftlich und gesellschaftlich benachteiligt; so ist ihnen etwa der Aufstieg in Militär, Verwaltung und Sicherheitsbehörden meist verwehrt. Darüber hinaus geht ihre Zahl aufgrund von Bedrängnis, dem Mangel an theologischen Ausbildungsstätten und fehlenden Perspektiven für die Jugend, Angriffen durch extremistische Gruppen und daraus folgender Auswanderung beständig zurück.
Auch die jüdische Gemeinschaft ist in vielen islamisch geprägten Ländern des Nahen Ostens inzwischen fast völlig erloschen: Nach der Staatsgründung Israels 1948 wurden die Juden aus etlichen Ländern vertrieben. Schlimmer geht es Konvertiten von islamischem Hintergrund: Sie gelten als Verräter, die Schande über ihre Familien bringen und werden häufig bedroht und verfolgt, auch wenn die meisten Länder keine Gesetze haben, die den Abfall vom Islam verbieten. Weniger im Fokus von Extremisten stehen Atheisten, die meist geduldet werden. Offen propagierter Atheismus stößt allerdings nur selten auf Verständnis in der Gesellschaft.

  

Bezugnehmend auf den Nahen Osten und die verbliebenen wie auch nach Europa geflohenen Christen, hört man von diesen immer wieder, dass Nichtmuslime als Kuffar oder Ungläubige betrachtet werden, die weniger Rechte als Muslime genießen. Ist das lediglich eine temporäre Erscheinung der letzten Jahrzehnte?

Dass Christen als Ungläubige betrachtet werden, ist zwar keine neue Erscheinung: Es gab in der Geschichte immer wieder Theologen, die sie als solche explizit betrachtet haben, während andere sie für Teilgläubige und prinzipiell für schützenswert hielten. Allerdings gestaltete sich das Zusammenleben von Christen und Muslimen in der Praxis zum Teil auch friedlich und gemeinschaftlich. Heute jedoch gebraucht eine Vielzahl extremistischer Bewegungen nicht nur den Begriff „Kuffar“ sehr häufig, sondern bringt auch allen Nicht-Muslimen Verachtung entgegen, aber ebenso auch allen Muslimen, die ihrer Meinung nach den Islam nicht „richtig“ praktizieren. Manche extremistischen Bewegungen rufen ausdrücklich zu Gewalt, Unterdrückung oder sogar Vernichtung aller „Kuffar“ auf. Im Irak hat das etwa in Verbindung mit dem Angriff der von den USA angeführten westlichen Kriegsallianz ab 2003, der darauf folgenden Implosion des Iraks und der Ausbreitung militanter extremistischer Bewegungen dazu geführt, dass die Zahl der Christen durch Vernichtung, Vertreibung und Flucht von etwa 1,2 Mio. Menschen vor 2003 auf heute vielleicht 200.000 Menschen zurückgegangen ist.

  

Gibt es innerhalb der verschiedenen Strömungen des Islams, der als Religion und Gesellschaftsordnung sehr facettenreich ist, Debatten über die Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen?

Durchaus. Eine Reihe von Theologen und Intellektuellen mahnt heute zur Anerkennung der Vielfalt der Religionen und zur aktiven Gestaltung eins friedlichen Zusammenlebens von Muslimen, Christen und Andersgläubigen. Leider wird diese Debatte von den theologischen Ausbildungsstätten und Moscheen im Nahen Osten und in westlichen Ländern insbesondere von den islamischen Verbänden noch kaum geführt, so dass die Diskussion insgesamt von zu wenigen einflussreichen Theologen aktiv befördert und in die Mitte der islamischen Gesellschaften hinein getragen wird. In den neu gegründeten Zentren für islamische Theologie an mehreren Universitäten in Deutschland lehren jedoch etliche Theologen diese Friedensbotschaft – werden dafür allerdings auch von manchen Muslimen scharf angegriffen.

  

Unterscheidet sich das Pro und Contra gegenüber den universellen Menschenrechten in den verschiedenen Rechtsschulen?

Das Pro und Contra gegenüber den universellen Menschenrechten unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Rechtsschulen kaum und prinzipiell auch nicht zwischen Sunniten und Schiiten. Nun gibt es gerade im schiitischen Iran heute einige prominente Verfechter von Menschen- und Freiheitsrechten, die für eine Neubewertung der traditionellen Scharia-Auslegung votieren. Und auch prominente Theologen im sunnitischen Bereich wenden sich gegen die Politisierung ihrer Religion.
Der Unterschied zwischen Befürwortern und Leugnern universeller Menschenrechte liegt vielmehr in der grundsätzlichen theologisch-politischen Ausrichtung. Im Grunde kann man drei Positionen ausmachen: Da gibt es progressive Stimmen, die die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern, Muslimen und Nicht-Muslimen nicht nur für vereinbar mit dem Koran und der islamischen Überlieferung halten. Sie vertreten vielmehr, dass der Koran selbst davon ausgeht, dass es schariarechtliche Regelungen gibt, die nur zeitlich begrenzt für Muhammads Lebzeiten und die Frühzeit des Islams Gültigkeit besaßen (wie etwa, dass Frauen nur die Hälfte erben). Die ethischen Regelungen des Islams dagegen seien von zeitloser Gültigkeit wie etwa die Pflicht zum Fasten oder Beten. Auch das Strafrecht als Bestandteil des Schariarechts besitzt für sie für die heutige Zeit keine Gültigkeit und keine Bedeutung mehr; es ist für sie lediglich Geschichte.
Gemäßigte Vertreter fordern sodann zwar keine prinzipielle Neuausrichtung der Interpretation des Schariarechts und betrachten es als prinzipiell gültig und in islamisch geprägten Gesellschaften anwendbar, rufen aber nicht zur Verfolgung von Christen oder zu Gewaltakten gegen Andersgläubige auf. Diesen beiden Gruppierungen stehen politisch-extremistische Vertreter gegenüber, die zu einer vollständigen Islamisierung aller Gesellschaften aufrufen, in denen Muslime als Mehrheit oder Minderheit leben. Sie fordern die vollständige Anwendung des Schariarechts inklusive der Körperstrafen wie Hand- und Fußamputation (etwa bei Diebstahl), das Auspeitschen von Männern und Frauen bei nicht-ehelichen Beziehungen und die Steinigung von Ehebrechern sowie Hinrichtung von Apostaten. Diese Gruppierungen sind es, die dazu aufrufen, Christen – insbesondere Konvertiten – zu bedrängen, zu bedrohen und nicht selten auch tätlich anzugreifen.

  

Wie können Muslime in einer pluralistischen Gesellschaft dazu beitragen, die Gleichstellung zwischen den Religionen zu fördern, was einer Befriedung in vielen Regionen weltweit zugutekommen würde?

Viele Muslime leben diese Gleichheit der Religionen bereits praktisch und respektieren Christen und Andersgläubige, haben Freunde unter Nicht-Muslimen, nehmen Anteil an religiösen Festen und laden sich gegenseitig zu Familienfeiern ein. Die wichtigste Aufgabe für solche „Friedensbotschafter“ ist das Hineinwirken in die eigenen Gemeinschaften, um damit denen entgegen zu treten, die lautstark über die sozialen Netzwerke oder in ihrem Umfeld vertreten, man könne nur Muslim oder Deutscher, Demokrat und ein Verfechter von Freiheitsrechten sein. Damit wird den negativen Stimmen eine positive Botschaft entgegengesetzt und denen der Alleinvertretungsanspruch abgesprochen, die Abgrenzung oder sogar Verachtung gegenüber der deutschen Gesellschaft verbreiten oder gegen Christen und Juden Stellung beziehen.

  

Wie können Nicht-Muslime (Christen, Juden, Atheisten u.a.) bei diesem Prozess behilflich sein?

Sie können viel bewirken, wenn sie Muslimen ohne Vorurteile begegnen, sie einladen und kennenlernen und ihnen Freundschaft und Hilfe anbieten, wo es sich ergibt. Viel zu viele Muslime in Deutschland sagen, dass sie kaum deutsche Freunde hätten. Es gibt sicher Fälle, in denen auch von der anderen Seite her kein Wunsch besteht, das zu ändern, aber andere hätten gern mehr Freunde unter Deutschen und/oder Christen und fühlen sich als Muslime ausgegrenzt und abgelehnt. Schade! Hier kann auch von Seiten der „bio-deutschen“ Bevölkerung noch viel geschehen.

  

Das Coronavirus macht keinen Unterschied zwischen den Religionen - Ist damit nicht belegt, dass wir unter Gottes Antlitz doch alle gleich sind?

Ja, das sind wir wirklich, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft oder Religion. Nach christlichem Verständnis sind alle Menschen Ebenbilder Gottes und besitzen von Geburt an dieselbe Menschenwürde. Die Krise ist eine gute Gelegenheit, Nachbarn und Fremde mit den Augen Gottes als seine Kinder zu sehen und ihnen so auch zu begegnen.
  
Jedem, der sich mehr für die Arbeit von Professor Dr. Christine Schirrmacher interessiert, empfehlen wir ihre Bücher zur Geschichte des Islams sowie den Frauen- und Menschenrechten im Islam.
 
 
David Fuhrmann
22.06.2020

 

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