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Die von den einzelnen Autoren veröffentlichten Texte geben ausschließlich deren Meinung wieder und nicht die der bearbeitenden Redaktionen und Veröffentlichungsplattformen
 
Autor: Berthold Gees
Ort: München, Deutschland
Format: Text
Thema: Gesellschaft, Politik, Religion
Datum: 26.01.2021
Portal: www.zocd.de
Textdauer: 10 min.
Sprache: Deutsch
Titel: Libanon – Schneller-Schulen im Nahen Osten
 
 

Interview mit Katja Dorothea Buck, leitender Redakteurin des  „Schneller-Magazin – über christliches Leben im Nahen Osten“

 
Katja Dorothea Buck ist leitende Redakteurin von „Schneller-Magazin – über christliches Leben im Nahen Osten. Die Publikation berichtet in Englisch und Deutsch über das kulturelle und religiöse Leben des Nahen Ostens. Buck ist ebenfalls Beiratsmitglied im Zentralrat Orientalischer Christen in Deutschland, sowie Vorsitzende des Vereins „Fokus Nahost – Netzwerk für Frieden und Vielfalt“.
 
Frau Buck, ein paar Worte über das Schneller Magazin
Bevor ich näher auf das Schneller-Magazin eingehe, sollte ich vielleicht kurz erklären, was die Schneller-Schulen sind. Daher kommt ja der Titel des Magazins. Die beiden Schneller-Schulen im Libanon und in Jordanien sind die Nachfolgeeinrichtungen des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem, das 1860 vom schwäbischen Missionar Johann Ludwig Schneller gegründet wurde und sich bis in die 1930er Jahre zur größten sozialdiakonischen Einrichtung im gesamten Nahen Osten entwickelte. Mit dem Beginn des zweiten Weltkriegs kam die Arbeit in Jerusalem zum Erliegen. In den 1950er Jahren wurden die Johann-Ludwig-Schneller-Schule im Libanon und die Theodor-Schneller-Schule in Amman gegründet. Das Besondere an den beiden Schulen ist, dass sie den Ärmsten der Armen in den jeweiligen Gesellschaften eine Chance geben wollen durch Schulbildung und die Möglichkeit, im Anschluss einen Handwerksberuf zu erlernen. Welcher Religion, Nationalität oder Ethnie die Kinder angehören, spielt keine Rolle. In den Internaten der beiden Schulen leben christliche und muslimische Kinder ganz selbstverständlich zusammen, sie lernen und spielen miteinander, werden Freunde, oft fürs ganze Leben. Das ist eine sehr berührende und vor allem funktionierende Form der christlichen Friedenserziehung, die ich seit mittlerweile 18 Jahre gerne mit meiner Arbeit als Redakteurin des Schneller-Magazins unterstütze.
Damit wären wir wieder bei Ihrer Ausgangsfrage zum Schneller-Magazin. Offiziell ist das Heft die Vierteljahresschrift des Evangelischen Vereins für die Schneller-Schulen (EVS). Der EVS ist ein klassischer Förderverein zur Unterstützung der Arbeit der beiden Schulen. Weil es wenig Sinn macht, alle drei Monate ausschließlich über zwei Schulen zu berichten – da würde sich im Laufe der Zeit vieles wiederholen –, haben wir vor gut 15 Jahren entschieden, dass wir das Schneller-Magazin auch als ein Instrument nutzen wollen, um die Stimme der Christen im Nahen Osten hörbar zu machen, und zwar möglichst so, dass sie selbst für sich sprechen und nicht wir in Deutschland über sie. Deswegen sind wir immer bemüht, auch AutorInnen aus dem Nahen Osten für die Artikel zu gewinnen. Wichtig ist uns in unserer Arbeit, dass sie ökumenisch und Dialog orientiert ist. Das heißt, dass wir – auch wenn der Verein und die beiden Schulen eine dezidiert evangelische Identität haben – uns im ökumenischen Kontext des Nahen Osten sehen, der ja von einer überaus großen Vielfalt geprägt ist. Hinzu kommt, dass wir – so wie an den Schulen auch – eine respektvolle Haltung gegenüber MuslimInnen einnehmen. Der Dialog ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander. Das müssen wir uns immer wieder aufs Neue klar machen, und das gilt es zu leben.  
 
Wie haben Sie die tragischen Ereignisse in Beirut berührt?
Als ich am 4. August 2020 die ersten Bilder und Videos von der Explosion in Beirut gesehen habe, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Über meine Arbeit habe ich viele persönliche Kontakte in Beirut. Ich war froh zu hören, dass keiner von ihnen getötet oder verletzt worden war. Doch wie vielen anderen, die die Situation im Libanon kennen, war mir schnell klar, dass diese Explosion nicht nur wegen der massiven Schäden, die sie angerichtet hatte, verheerend war. Sie traf eine Bevölkerung, die bereits in mehreren Krisen gleichzeitig steckte. Wirtschaftlich ist das Land am Ende, hat keine Devisen mehr, die öffentliche Hand kann keine Gehälter mehr auszahlen. Dann steckt der Libanon politisch in einer Sackgasse. Eine stabile Regierungsbildung ist nicht mehr möglich. Und spätestens seit dem Beginn der Corona-Pandemie wird auch eine Gesundheitskrise offensichtlich, die sich durch die Zerstörung von Krankenhäusern bei der Explosion erheblich verschärft hat. Ich könnte noch die Flüchtlingskrise nennen, oder die ökologische Krise, oder die außenpolitischen Probleme durch die Nichtbeziehung zu Israel und die Situation in Syrien. Es brennt seit langem an allen Ecken und Enden im Libanon. Und dann kommt es zu dieser verheerenden Explosion, die schlicht der Schlamperei und der Korruption geschuldet ist. Das war kein feindlicher Akt von außen, sondern Ausdruck einer bodenlosen Gleichgültigkeit der politischen Elite gegenüber dem eigenen Volk. Die Wut auf die Politik ist ungemein groß, aber auch die Frustration, die bis hin zur Resignation geht. Mich hat die Antwort einer Freundin aus Beirut sehr nachdenklich gemacht. Früher hat sie bei Krisen und Problemen immer versucht, noch Hoffnung zu verbreiten, hat geschaut, wie sich helfen lässt, wie sich Schmerz lindern lässt. Nach der Explosion hatte sie resigniert. Was für einen Sinn mache es noch, sich für so ein Land einzusetzen, schrieb sie.
 
Wer ist, Ihrer Meinung nach, für den fahrlässigen Umgang mit dem chemischen Stoff verantwortlich, welcher die Detonation ausgelöst hat?
Verantwortlich ist in meinen Augen ein korruptes System, das von vielen mitgetragen wurde und von dem nicht nur die oberste Politikerklasse profitiert hat, sondern viele andere in den unteren Rängen genauso. Ein muslimischer Scheich aus Saida hat mir das so beschrieben. „Im Libanon herrscht eine Mentalität, die danach fragt, was das Land für mich tun kann und wie ich das meiste für mich heraushole. Dringend notwendig wäre aber, dass wir lernen zu fragen: Was kann ich für mein Land tun.“  
 
Was macht die politische Situation mit der jungen Generation und der vielfältigen Gesellschaft im Libanon?
Viele junge Leute wollen einfach nur noch weg, suchen nach Wegen, wie sie im Ausland studieren können, um sich dort eine dauerhafte Perspektive aufzubauen. Grundsätzlich ist das nicht neu. Emigration ist seit dem libanesischen Bürgerkrieg (1975 bis 1990) immer ein Thema gewesen. Und gerade die Kirchen sorgen sich seit vielen Jahren darum, dass ihnen die Jugend davonläuft. Es war für mich immer berührend, mit jungen Leuten zu sprechen, die trotz allem geblieben sind, die sich für ihre Kirche oder für die Gesellschaft einsetzen wollten, die an den Libanon geglaubt haben. Nach der Explosion sind aber auch von diesem harten Kern noch einmal viele gegangen oder wollen endgültig gehen. Die Eltern bleiben oft zurück, was eigene Probleme nach sich zieht. Denn man darf in der jetzigen Situation gerade die älteren Menschen nicht vergessen. Sie leiden genauso unter der Krise, kommen an ihr Geld nicht ran, müssen mit der Inflation klarkommen. Zusätzlich müssen sie aber auch noch die Risiken in der Pandemie aushalten, die für sie ungleich höher sind. Gleichzeitig wissen sie um die schlechte medizinische Versorgungslage. Das alles müssen sie allein hinkriegen, ohne ihre Kinder, die im Ausland leben. In einer libanesischen Zeitung war neulich von einer signifikant steigenden Selbstmordrate gerade unter alten Menschen im Libanon zu lesen.
Aber Sie hatten auch nach der Vielfalt der libanesischen Gesellschaft gefragt. Ich würde nicht so weit gehen, dass diese jetzt bedroht ist. Emigration betrifft alle Religionsgemeinschaften. Natürlich trifft Minderheiten ein solches Phänomene stärker. Der Libanon wird sich aber weiter durch seine Vielfalt auszeichnen.
 
Haben junge Menschen nicht genug von Grabenkämpfen, Korruption und Vetternwirtschaft?
Es gibt Stimmen im Libanon, die gerade in der jetzigen Situation auch eine Chance für diese Vielfalt sehen. Für die jungen Menschen, die sich in ihrer Frustration um das korrupte System geeint wissen, zählen konfessionelle Grenzen nicht mehr. Und das ist in einem Land, in dem 15 Jahre lang ein grausamer Bürgerkrieg gekämpft wurde, bemerkenswert. Es bleibt zu hoffen, dass Konfessionsgrenzen im Libanon immer mehr an Relevanz verlieren. Ursprünglich war ja das konfessionell orientierte politische System der Versuch, ein friedliches Miteinander unter den vielen verschiedenen Gruppen im Libanon zu ermöglichen. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass dieses System extrem anfällig für Nepotismus ist. Jeder schaut, wie er seine eigenen Schäfchen ins Trockene bringt. Das große Ganze gerät da aus dem Blick. Nicht nur die Jugend hat das längst erkannt und fordert deswegen die Abschaffung des konfessionellen Systems. Ich bin gespannt, ob das möglich ist. 
 
Was wünschen sich junge Menschen im Nahen Osten und wie ist es möglich diesen Wünschen nachzukommen?
Ich kann nicht für die ganze Jugend sprechen, aber die jungen Leute, zu denen ich über die verschiedenen Kanäle Kontakt habe, äußern immer wieder ihr tiefes Bedürfnis nach einem gedeihlichen Miteinander in der Vielfalt. Innerhalb der kirchlichen Jugend gibt es eine Art ökumenischen Aufbruchs. Junge Menschen aus den verschiedenen Kirchen wollen sich in ihrer Unterschiedlichkeit begegnen. Das strahlt auch auf das christlich-muslimische Miteinander aus. Vor zwei Jahren hat in Beirut ein internationales Jugendtreffen mit den Taizé-Brüdern stattgefunden, über das ich auch berichtet habe. Es war sehr eindrücklich, wie interessiert diese jungen Leute aus allen Ländern des Nahen Ostens am ökumenischen Austausch waren und ihn genossen haben.
 
Wie kann Glaube dazu beitragen, um diesen Wünschen nachzukommen?
Meine Überzeugung ist, dass der Glaube in solchen Situationen großen Halt geben kann. Und gerade die Geschwister im Nahen Osten erlebe ich als sehr gefestigt in ihrem Glauben. Schwierig wird es, wenn Kirchen zu closed communities werden, wenn man also den Halt darin sucht, sich im Eigenen einzubunkern und nur aus der Selbstbestätigung Kraft schöpft. Ich bin überzeugt, dass es eine der größten Herausforderungen für die Kirchen im 21. Jahrhundert ist, sich trotz der empfundenen und realen Bedrohungen von außen nicht hinter den eigenen Mauern zu verschanzen. Das gilt nicht nur für die Kirchen im Nahen Osten, sondern auch in Deutschland und anderswo auf der Welt. Wenn sie offen bleiben für die Begegnung mit dem anderen, wenn sie zeigen, dass man Unterschiedlichkeit aushalten kann, dann können sie Vorbild für so viele Menschen sein. Offenheit gegenüber dem anderen ist keine einmalige Entscheidung. Das ist ein lebenslanges Lernen und dafür braucht es Vorbilder.
 
Sieht die junge Generation im Nahen Osten vor einer verstärkten Säkularisierung? Mit welchen Folgen?
Die Säkularisierung macht auch vor dem Nahen Osten nicht Halt. Für junge Menschen, die in religiösen Gesellschaften aufwachsen, ist es aber ungleich schwerer, eine kritische Distanz zum eigenen Glauben aufzubauen. Man wird in eine Religionsgemeinschaft hineingeboren, ob man will oder nicht. Wer aus dieser Gemeinschaft raus will, steht quasi im gesellschaftlichen Nichts. Ich denke aber, dass sich mit den neuen Kommunikationsmitteln, mit denen junge Menschen sich mit Gleichgesinnten auf der ganzen Welt austauschen können, in diesem Punkt noch viel entwickeln wird. Und die Kirchen sind gut beraten, sich darauf einzustellen und nach Antworten zu suchen.
 
Wie können unsere Leser den betroffenen Menschen in Beirut helfen?
Neben Spenden an Organisationen, die sich für den Wiederaufbau der Häuser im Libanon einsetzen, ist es auch wichtig, dass der Libanon nicht aus der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland verschwindet. Die Explosion ist fast ein halbes Jahr her. Solche Katastrophen, egal wie groß sie sein mögen, verschwinden schnell wieder aus dem Gedächtnis. Der Libanon hat aber mit so vielen Krisen gleichzeitig zu kämpfen. Das Land und die Menschen brauchen verlässliche Partner in Europa.
 
Was ist das Ziel Ihrer Hilfskampagne?
Die Spendenaktion zum Wiederaufbau von Beirut ist ausgelaufen. Möglich ist, die Schneller-Schulen zu unterstützen. Die stehen für eine nachhaltige Friedenserziehung und für die Unterstützung der Ärmsten der Armen.
 
 
Dr. Berthold Gees
26.01.2021
 
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