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Autor: Simon Jacob, Valentin Hoffmann
Ort: Deutschland
Format: Text
Thema: Politik, Gesellschaft, Religion, Extremismus, Minderheiten
Datum: 11.03.2021
Portal: www.zocd.de  
Textdauer: ca. 20 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Krieg in den Medien - armenisch-aserbaidschanischer Konflikt, getrieben von Hass und Gräueltaten
  

Krieg in den Medien - armenisch-aserbaidschanischer Konflikt, getrieben von Hass und Gräueltaten

  
Professor Dr. Anahit Khosroeva lehrt an der North Park University in Chicago, ist Expertin für Genozidforschung und habilitierte 2003 an der Nationalen Akademie der Wissenschaft in Armenien zum Thema Genozid an den Assyrern mit dem Titel: „The Assyrian Massacres in the Ottoman Turkey and on the Turkish Territories of Iran (late 19th – the first quarter of the 20th century). Auszüge sind unter dem Link wie folgt zu finden - "Assyrian Massacre in the Ottoman Turkey and Adjacent Turkish Territories".
  
Zusammenhängend mit dem Bruchlinienkonflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, mit dem als „Berg Karabach“ bezeichneten Territorium als Hauptkonfliktpunkt, welcher historisch betrachtet von Armeniern besiedelt wurde, offenbarte sich auch ein digitaler Konflikt in den Sozialen Medien, der, so scheint es, im Besondern durch religiös – nationalistisches Gedankengut geprägt wurde und bewusst mit Erinnerungen an den Genozid an den Christen im Osmanischen Reich (1915 – 1918) spielt. Unter Betrachtung der äußert martialischen Rhetorik in den Medien erscheint es als offensichtlich, dass das Narrativ des „Armeniers“ als Untermensch propagiert wird, besonders getrieben durch die faschistische Sichtweise pantürkischer Nationalisten wie z.B. der „Grauen Wölfe“, um den Gegner einzuschüchtern und zu demoralisieren. Bewusst spielen Akteure auf den genozidalen Mord an christlichen Armeniern, Assyrern, Aramäern, Chaldäern, Pontos-Griechen usw. im Osmanischen Reich an, um den Anschein zu erwecken, dass die fast vollständige Vernichtung jeglicher christlich – ethnischer Kultur im damaligen Osmanischen Reich nun vollendet wird. Zum medialen Einsatz kommen genauso Aufnahmen von Drohnen, die von der Türkei in Kriegsregionen exportiert werden, wie auch eine starke Präsenz verschiedenster Trolle in den Sozialen Medien, die den Konflikt zusätzlich aufheizen.
  
Mit Professor Dr. Anahit Khosroeva, gebürtige Armenierin und ethnisch zur Hälfte auch Assyrerin, unterhalten wir uns über die Auswirkungen faschistischen und nationalistischen Gedankengutes, welches die Ereignisse während des Genozids im Osmanischen Reich an den Christen mit den aktuellen Ereignissen in Berg Karabach verquickt und eine digital – toxische Mischung werden lässt, die auch die Gesellschaft in Europa erreicht und spaltet. Besonders, wenn es um den Umgang mit faschistischen Ideologien geht, die dem Gedankengut deutscher Staatsbürger mit türkischem oder nahöstlichem Hintergrund entsprungen sind und zu einer ernsten Gefahr werden.
  
Dr. Khosroeva - Wie fühlen Sie sich als Armenierin, wie fühlen Sie sich als Christin?
Diese Frage wird mir oft gestellt, und jedes Mal finde ich sie lustig, weil in Armenien, wo ich aufgewachsen bin und den größten Teil meines Lebens verbracht habe, über 99% der Bevölkerung Christen sind. Ich glaube, diese Konstellation in Armenien ist einzigartig. Ein Christ unter maximal religiöser Freiheit, von der jeder Christ träumen kann, zu sein, bedeutet für mich nicht, Regeln und Vorschriften einzuhalten, Rituale durchzuführen oder sogar in die Kirche zu gehen. Es bedeutet viel mehr. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich in der Sowjetunion aufgewachsen bin, wo Religion größtenteils verboten war. Das erste Mal, dass ich eine Kirche besuchte, war in meinen Teenagerjahren und mit 25 Jahren wurde ich erst getauft.
  
Als Christin geht es mir hauptsächlich um eine Freundschaft, die auf eine Verbindung mit Jesus Christus eingeht. Und um Eigenschaften des Christentums, im Sinne der Gottesfürchtigkeit und Demut. Christen sollten die Frucht des Geistes offenbaren, die ihnen in Galater 6 (Paulusbrief aus der Bibel an die Galater) - verliehen wurde. Zusammenhängend mit Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Güte, Sanftmut und Selbstbeherrschung.
  
Hätte es eine andere Konfliktlösung außer dem aktuellen Abkommen zwischen Armenien, Russland und Aserbaidschan gegeben?

Dies ist die komplexeste Frage von allen, weil es so viel zu der Situation zu sagen gibt, aber ich versuche mich so kurz wie möglich zu halten. Der Nagorny-Karabach-Konflikt ist nicht neu, aber er begann 1988. Zu dieser Zeit war die Region Karabach Teil der sowjetischen Republik Aserbaidschan, kurz bevor diese zusammenbrach. Die meisten Menschen in dieser Gegend waren ethnische Armenier, die ihren Wunsch zum Ausdruck brachten, die aserbaidschanische Republik zu verlassen. Zu Beginn des Krieges war die Sowjetunion noch Realität, aber am Ende des Krieges 1994 waren Armenien und Aserbaidschan zwei getrennte Staaten. Leider hat in Folge kein anderes Land Berg-Karabach als unabhängige Region anerkannt. Das erste Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland, als Vertreter der OSCE Minks Group, wurde 1994 geschlossen und als „Bischkek-Protokoll“ bezeichnet. Das Protokoll sollte bis zu einer endgültigen Vereinbarung ohne Ablaufdatum intakt bleiben. Eine neue Vereinbarung, die den Frieden oder zumindest einen Waffenstillstand hätte sichern können, blieb jedoch bis zum Ausbruch des Krieges letztes Jahr aus.

  
Doch widmen wir uns nun der Frage, warum der Konflikt wieder ausgebrochen ist. Aus armenischer Sicht heißt das Gebiet Artsakh und war traditionell und historisch eine der 15 Kernregionen Armeniens, in denen hauptsächlich Armenier leben. Im Grunde sehen wir es als unsere angestammte Heimat an. Nach dem ersten Armenien – Aserbaidschan Krieg (1994) hat Armenien Regionen in Aserbaidschan erobert, die man im geschichtlichen Kontext Armenien zuordnen kann, die aber nach internationalem Recht als „besetztes“ Gebiet betrachtet werden. Das hat mit der Entscheidung Stalins von 1921 zu tun, als die Kommunisten den Armeniern im heutigen Berg Karabach Autonomie gewährten, das Territorium aber in die Sowjetrepublik Aserbaidschan eingliederten. Eine fatale Entscheidung, aus denen sie sich die aktuellen Konflikte speisen. Armeniens Hoffnung und Strategie war darauf zu warten, dass Berg-Karabach als unabhängige Region anerkannt wird.
  
Der aktuelle Konflikt ist ein anderer und unterscheidet sich von den vorherigen Auseinandersetzungen, weil von Beginn an das NATO-Mitglied Türkei an der Planung, Konzeption und Durchführung mitwirkte. Strategisch erschwerend kam hinzu, dass unsere neue Regierung, die nach der „Revolution“ im Jahr 2018 gewählt worden war, als parlamentarische Demokratie fungiert. Verbunden mit der Konsequenz, dass der neu gewählte Premierminister, obwohl ohne Erfahrung in militärischen Strukturen oder Kriegseinsätzen, als Oberbefehlshaber der Armee galt. Für europäische Politiker mag das die Norm sein. Doch gerade in einer konfliktreichen Region wie im Kaukasus spielt, eingekeilt zwischen verfeindeten Staaten, militärische Erfahrung eine primäre Rolle. Alle Präsidenten zuvor hatten einen Bezug zu Berg Karabach und verstanden die Feinheiten der äußerst komplexen Gegebenheiten. Viele hohe Politiker der vorherigen Regierung waren Veteranen früherer Konflikte und entsprechend militärisch erfahren. Akademiker wie ich warnten vor dem bevorstehenden Krieg, weil der Konflikt, welcher wie bereits von mir angedeutet in der Vergangenheit liegt, immer noch nicht gelöst war. Auch das Wirtschaftswachstum Armeniens war aufgrund fehlender Ressourcen begrenzt und leidet bis heute unter dem Ausbruch des Krieges. Aber die Regierung hörte nicht zu und ignorierte unser aller Warnungen. Infolgedessen war die Bevölkerung nicht bereit und nicht ausreichend vorbereitet auf diesen Konflikt, sofern man das überhaupt sein kann.
  
Meiner Meinung nach hat unser Premierminister Verrat am eigenen Volk begangen; ausgehend davon, dass uns die Regierung während des gesamten Krieges vermittelt hat, dass wir gewinnen und uns mit falschen Informationen versorgte. Später vermittelte uns die politische Führung, dass man sich einige Tage nach Kriegsausbruch bewusst war, dass man den Krieg verlieren würde. Hier stellt sich die Frage, weshalb das unserem Premierminister nicht von Anfang an klar war. Weshalb wurden wir darüber nicht umfassend unterrichtet? Vielleicht wären wir emotional und gesellschaftlich besser darauf vorbereitet gewesen, wenn man ehrlich mit uns umgegangen wäre. Im Grunde genommen muss man sagen, dass uns unsere eigene Regierung angelogen hat. 
  
Leider befürchte ich, dass der Konflikt sich fortsetzen wird. Wir müssen uns entscheiden, ob wir das Territorium zurückerobern wollen oder den aktuellen Status akzeptieren.
  
Wie waren die Medien in den Konflikt verwickelt und setzt sich der Konflikt in den Medien fort?
Zunächst überrascht es mich, dass die internationalen Medien kaum über die Situation berichtet haben. Wie ist es möglich, dass in einer hochdigitalisierten und äußert medialen Welt kaum jemand über diesen Konflikt spricht? Es scheint fast so, als hätte es niemanden interessiert. Die aserbaidschanischen Medien wurden im Krieg angehalten nicht zu berichten, was eine gute Idee war. Reguläre Medien sollten nicht in einen Konflikt hineingezogen werden, ohne die umfänglichen Fakten zu kennen. Die armenischen Medien berichteten hingegen tagtäglich von Todesfällen und Schäden, doch es stellte sich heraus, dass auch die Informationen von armenischer Seite nicht immer der Wahrheit entsprachen. Fakten wurden nicht richtig dargestellt. Doch kann ich den Medien auch keine Vorwürfe machen. Das Wissen, welches sie verbreitetet, wurde ihnen direkt von den jeweiligen Abteilungen der Regierung vermittelt. Als Folge ist die armenische Bevölkerung nach der schmerzhaften Niederlage der Ansicht, dass die Regierung abtreten sollte. Deswegen finden im Land viele Demonstrationen statt. Doch bisher konnte der Premierminister nicht davon überzeugt werden zurückzutreten. Übrigens ein aktueller Schwerpunkt der medialen Berichterstattung.
  
Gibt es Hinweise darauf, dass Mitglieder des aserbaidschanischen Militärs Menschenrechtsverletzungen begangen und diese in den sozialen Medien geteilt haben?
Ja, es gibt Videos in sozialen Medien, die Menschenrechtsverletzungen deutlich machen. Sie folterten nicht nur Menschen, sondern setzten auch biologische Waffen ein. Amnesty International berichtete z.B. darüber.
  
Gilt das auch für Angehörige des armenischen Militärs?
Bisher habe ich keine Beweise für solche Behauptungen gesehen. Und ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass Armenier, die dem christlichen Wertekanon folgen und sich als Christen bezeichnen, solche Dinge tun würden. Aber natürlich behauptet die aserbaidschanische Propaganda das Gegenteil.
  
In welchem Verhältnis vergiften die Handlungen und die Verbreitung solcher Inhalte die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen den Parteien?
Es besteht kein Zweifel daran, dass solche bewusst verbreiteten Videos und Menschenrechtsverletzungen, vor allem verbreitet in den Sozialen Medien, die Konflikte nur noch mehr anheizen.
  
Sind unmenschliche Verbrechen, wie sie möglicherweise von Angehörigen des aserbaidschanischen Militärs begangen wurden, Teil einer Ideologie, die mit dem Genozid an den Christen im Osmanischen Reich zusammenhängen könnte? 
Das ist einer meiner Fachbereiche, über den ich bereits mehrfach, in verschiedenster Form, berichtet habe. Basierend auf wissenschaftlich fundierten Arbeiten. Ende des 19. Jahrhunderts ließ Sultan Abdul Hamid II vom Osmanischen Reich 300.000 Armenier und 55.000 assyrische/chaldäische/syrische Christen töten. Von der herrschenden Regierung der Jungtürken wurden während des Ersten Weltkrieges (1914-1918) über zwei Millionen Mitglieder der christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich umgebracht. Dieser Völkermord richtete sich gegen Armenier, Assyrer und andere christliche Minderheiten. Noch heute weigert sich die Türkei, als Nachfolger des Osmanischen Reiches, zuzugeben, dass dieser Massenmord ein Völkermord war.
  
Gleichzeitig haben die Türkei und Aserbaidschan eine starke militärische, wirtschaftliche, ideologisch und kulturelle Beziehung zueinander. Wir Armenier nennen die Aserbaidschaner den jüngeren Bruder der Türken. Auch die Sprache ist sehr ähnlich. Erdoğan hat gesagt, dass die beiden Länder eine Nation, zwei Staaten sind. In den letzten Jahren hat die Türkei Aserbaidschan intensiv unterstützt und die Regierung in Baku dazu ermutigt, proaktiver zu werden - speziell im Zusammenhang mit Berg Karabach. Nach dem Ausbruch des Militärkonflikts im Juli 2020 unterstützte die Türkei Aserbaidschan mit Nachdruck auf verschiedenen Ebenen. Zum Beispiel bewachten zwei türkische F16-Jets den aserbaidschanischen Luftraum. Außerdem halfen sie aserbaidschanischen Truppen bei der militärischen Ausbildung, exportierten moderne Waffen, im Besonderen strategisch bedeutende Dohnentechnologie, in das Land. Aserbaidschan ist für die Energiesicherheit der Türkei von geopolitischer und strategischer Bedeutung sowie ein wichtiger Investor, der die  angeschlagene Wirtschaft der Türkei stützt. Erdoğans Ziel ist es, eine größere Türkei aufzubauen. Seine Außenpolitik basiert auf dem Gedanken des Neo-Osmanismus, Pan-Turkismus und Pan-Islamismus. Der Pan-Turkismus ist eine nationalistische Ideologie, die glaubt, dass alle türkischsprachigen Menschen in allen Teilen Asiens eine einzige Nation bilden.
  
Gleichzeitig ist der Neo-Osmanismus eine religiös geprägte Ideologie, in der alle türkischsprachigen Menschen vereint sein sollten. Beide Ideologien haben das gleiche Ziel, nämlich eine  „neue große Türkei“. Erdoğan will, bildlich und historisch betrachtet, der Sultan dieser neuen großen Türkei sein. Alle Menschen, die in Opposition zu dieser Ideologie stehen, verlassen das Land oder werden inhaftiert. Jene, die dieser Ideologie folgen, sehen die Christen, verankert in einer nationalistisch – religiös geprägten Weltanschauung, als ihren Feind.
  
Vor einiger Zeit hielt der Nahostexperte und Journalist Simon Jacob bei einem Symposium zum Thema „Menschenrechte in der Türkei“ einen geopolitischen Vortrag darüber, der die Zusammenhänge zwischen türkischer Expansionspolitik, technologisch – militärischer Entwicklung, Digitalisierung, nationalistisch – islamisch geprägtem Faschismus und historisch vergangenen Ereignissen näher erläuterte. Der gesamte Vortrag ist mit diesem Link als Video auf dem Portal einer Menschenrechtsorganisation abrufbar. Ebenfalls die umfassende und interessante Power Point im PDF – Format, die Herr Jacob zeigte.
  
Ebenfalls interessant dazu ist der Artikel „EASTERN EUROPE - Azerbaijan and Turkey’s genocidal assault against Armenians“ des Portals „moderndiplomacy“, welcher das Thema objektiv und sachlich abhandelt.
  
Wie nah ist die Ideologie extremistischer Gruppen wie ISIS?
Meiner Meinung nach hat die türkische Regierung Extremisten in der Region Berg Karabach eingesetzt. Während des Karabach-Krieges mobilisierte die Türkei rund 4000 ehemalige Dschihadisten aus Syrien und anderen Ländern, um gegen Armenien zu kämpfen. Dies ist ein großes Problem, da es sich nicht mehr nur um einen Konflikt zwischen zwei Ländern handelte, sondern nach der Beteiligung extremistischer Gruppen auch zu einem überregionalen Konflikt wurde. Aber Ankara bestreitet natürlich die Tatsache, dass Milizionäre mit islamistischem Gedankengut eingesetzt wurden. Gleichzeitig ist das auch ein Problem für Russland, da über den Kaukasus weitere Dschihadisten nach Dagestan vordringen und zur Expansion des Islamismus beitragen.
  
Die Türkei und der „IS“ z.B. haben, in Bezug auf ihre Ideologie, viel gemeinsam. Der „Islamische Staat“ ist eine sunnitisch-jihadistische Gruppe mit einer sehr gewalttätigen Ideologie, die religiöse Autorität über die muslimische Gemeinschaft beansprucht. Daher versuchen beide Gruppen Dominanz über ein bestimmtes Gebiet zu etablieren und ihren eigenen Staat zu entwerfen, der von ihren radikalen Ideologien geleitet wird. Man könnte sagen, dass die pan-türkischen Nationalisten eine moderne Version des IS mit höher entwickelter Technologie und Waffen sind – unabhängig der Tatsache, dass Schiiten in Aserbaidschan dominieren und religiös vom IS als Abtrünnige betrachtet und bekämpft werden.
  
Wie stark ist diesbezüglich der Effekt auf den Kaukasus und Europa?
Als der IS 2016 christlich - assyrische Dörfer in der Nähe des Khabour-Tals zerstörte, vermittelte ich den Menschen im armenischen Fernsehen, dass dies jetzt zwar ein Problem in Syrien sei - doch könne es früher oder später zu einem Problem auf der ganzen Welt werden. 2016 wurde mir wenig Glauben geschenkt und man hielt es nicht für denkbar, dass extremistische Gruppierungen wie der IS in unsere Region vordringen könnten. Aber leider behielt ich recht. Ausgehend davon, dass Erdogan die Stabilität im Kaukasus bedroht, spielt er auch gleichzeitig mit der Sorge der Europäer, wenn es um Flüchtlinge geht. In Frankreich spaltet er ebenfalls, in dem er z.B. von Islamophobie spricht und damit versucht türkisch-stämmige Bürger aufzusetzen und sie ermuntert, sich dem Terror zu widmen. Damit einhergehend folgt das Problem, dass Europa versucht, liberaler und offener für Flüchtlinge zu sein, aber meiner Meinung nach in einen kulturellen Konflikt mit ihnen gerät. Europa hat Schwierigkeiten damit, sie in die Kultur des Landes zu integrieren, in welchem sie Schutz suchen. Oft scheitert die Integration und bringt die genannten Probleme mit sich, die Staatslenker wie Erdogan für sich nutzen.
  
Eine letzte Frage: Sehen Sie eine Ähnlichkeit zwischen der Ideologie des IS und der Nationalisten wie der Gruppe der sogenannten „Grauen Wölfe“?
Die Ideologie der Grauen Wölfe betont die türkische Geschichte, indem sie auf ihre glorreichen Tage besteht und Ereignisse wie die Gründung der ersten türkischen Staaten in Zentralasien instrumentalisiert, um den Gedanken einer rein "türkischen Rasse" zu formen. Parallel dazu wird die Konzeption der türkischen Nation mit der Religion, dem Islam, als Ideal verbunden. Die Ideologie der „Grauen Wölfe“ basiert auf dem "Überlegenheits – Gedanken" der türkischen Rasse und der türkischen Nation. Ein “…Streben nach einer "idealen" türkischen Nation, die sie als sunnitisch-islamisch und mono-ethnisch definieren: nur bewohnt von "wahren" Türken. Ein Türke ist jeder, der auf türkischem Gebiet lebt, sich türkisch fühlt und sich selbst als türkisch bezeichnet."
  
Ähnlich agiert der IS, der religiöse Gewalt fördert und Muslime, die mit deren Interpretationen nicht einverstanden sind, als Ungläubige oder Abtrünnige betrachtet, und das sind sehr viele; die Schiiten in Aserbaidschan eingeschlossen. Eine solche Symbolik soll, ähnlich wie die der „Grauen Wölfe“, die vergangene Größe, sei es nun das „Kalifat“ (IS) oder das „Osmanische Reich“ (Graue Wölfe, Nationalisten), wieder in neuem Glanz auferstehen lassen.
  
Entsprechend gibt es viele Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede. Beide sind ultra-nationalistische, islamistische und neofaschistische Gruppierungen. So waren auch die Grauen Wölfe am ersten Karabach-Krieg beteiligt. Mitglieder der Grauen Wölfe kämpften auf der Seite Aserbaidschans. Ein Bild von einer Parade in Aserbaidschan, nachdem der Krieg gewonnen wurde, zeigt z.B. einen General der aserbaidschanischen Armee, wie er den „Wolfsgruß“ zeigt. Das markante Erkennungszeichen der Grauen Wölfe, die inzwischen in Frankreich verboten, in Deutschland zugelassen sind. Das armenische Radio berichtete darüber.
  
Der markante Unterschied zwischen den Ideologien besteht darin, dass der IS eine religiös motivierte Gruppierung ist. Die Grauen Wölfe sind motiviert von der historischen Vergangenheit der Türkei und dem Gedanken der reinen „türkischen Rasse“. Aber beide bemächtigen sich der gleichen Brutalität, religiös untermauert, um Gewalt anzuwenden und möglichst viel Angst und Schrecken zu verbreiten.
  
In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass der Vorsitzende der türkischen Partei der nationalistischen Bewegung, kurz MHP und Koalitionspartner der AKP, die Grauen Wölfe als Teil der MHP betrachtet und deren Ideologie mehr als teilt. Vor Kurzem gab deren Vorsitzender, Devlet Bahçeli (MHP) bekannt, mit dem Bau einer nationalistischen Schule in Shushi (der Stadt in Berg Karabach, die am 9. November 2020 von Aserbaidschan erobert wurde) zu beginnen.
  
Laut der türkischen Daily News "Hurriyet" sagte Devlet Bahçeli, dass sowohl Präsident Erdogan als auch Präsident Aliyev seinen Vorschlag zum Bau der Schule in Shushi gebilligt hätten. Sie haben am 30. Januar 2021 den ersten Stein als Grundlage für diese Schule gelegt. Ich bin sicher, dass das ein ideologischer und symbolischer Akt war, um Macht zu demonstrieren.
  
Frau Khosroeva, vielen Dank für die ausführlichen Informationen und die Zeit, die Sie sich für dieses Gespräch genommen haben.
  
Simon Jacob, Valentin Hoffmann
 
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