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Die von den einzelnen Autoren veröffentlichten Texte geben ausschließlich deren Meinung wieder und nicht die der bearbeitenden Redaktionen und Veröffentlichungsplattformen
Autor: Yawsef Beth Turo
Ort: Deutschland
Format: Text
Thema: Politik, Gesellschaft, Religion, Extremismus, Minderheiten
Datum: 17.10.2020
Textdauer: ca. 8 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Krieg im Land, Krieg auf der Welt
KRIEG IM LAND, KRIEG AUF DER WELT
Es waren die ersten Jahre des vergangenen Jahrzehnts… Mit dem Amtsantritt von Ahmet Davutoglu als Außenminister gab es Anzeichen einer Annäherung der Türkei an rechtsstaatliche Prinzipien. Mit seinen Aussagen und Kommentaren errang er die Aufmerksamkeit der Medien. Zu Beginn seiner Amtszeit veröffentlichte er am 21. März 2013 einen Kommentar in der Zeitschrift Foreign Policy mit der Überschrift „Zero Problems in a new Era“. Er schrieb über den Prozess der Demokratisierung Nordafrikas und des Nahen Ostens und über die Konflikte, die mit den Nachbarländern Europas beigelegt werden sollten.
In dieser Zeit versuchte die Regierung der AKP den andauernden Streit mit Zypern zu lösen, die Feindschaft mit dem benachbarten Syrien aufzulockern sowie die Beziehungen zu Armenien zu normalisieren. Auch in der Innenpolitik dachte man, dass sich die Türkei der Frage des Völkermords von 1915 öffnet, die Kurdenfrage friedlich zu lösen versucht und auch mit den anderen Minderheiten den Dialog sucht. Das alles rief positive Reaktionen hervor – sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Landes.
Wirft man einen Blick zurück so sieht man, wohin das alles führte bzw. was die Resultate sind. Im Nachhinein wird klar, dass alle Vorstellungen illusorisch waren. Heute hat die Türkei mit 90 benachbarten Ländern über 90 ungeklärte Konflikte. Sie sollte den Co-Vorsitz des Projektes „Großer Naher Osten“ innehaben. Heute fragt man sich, wie ein Land, das so viele ungelöste Konflikte hat, den Co-Vorsitz für eines solchen Projektes übernehmen kann.
Und innenpolitisch… wurde die Lage noch unruhiger. Der Friedensprozess mit den Kurden, der durch den Dialog mit dem inhaftierten PKK-Anführer Öcalan zustande gekommen war, geriet ins Stocken, die Annäherung an die Armenier stoppte und die Minderheiten des Landes fühlen sich nicht mehr sicher. Die ersehnte Öffnung des Landes blieb aus, Journalisten und Andersdenkende wurden inhaftiert. Selbst demokratisch gewählte Abgeordnete der HDP wurden ins Gefängnis gesteckt, weil sie Kritik an der Regierung übten. Selahattin Demirtas, Can Dündar, Ahmet Altan, Osman Kavala und viele andere Politiker, Journalisten und Gelehrte wurden aufgrund ihrer kritischen Haltung von der politischen Bühne entfernt.
Als ob es nicht ausreichen würde, die kulturelle Vielfalt des Landes zu beseitigen, wurden zuletzt auch Kulturgüter des Staates selbst ins Visier genommen und nach dem Motto des „Islamique concours“ islamisiert. Als letztes Beispiel dient die bekannte Hagia Sophia, die von einem Museum in eine Moschee umgewandelt wurde. Durch dieses Verhalten haben viele Suryoye (Aramäer-Assyrer) ihre Bestrebungen in Richtung Heimat im Südosten der Türkei aufgegeben. Jedes Mal, wenn das Vertrauen und die Hoffnung auf bessere Verhältnisse wuchsen, wurden diese mit aller Absicht zunichte gemacht. Das Vertrauen unserer Volksangehörigen in die Amtsträger hat stark gelitten und Hoffnungslosigkeit, im Rahmen einer besseren Zukunft, hat sich ausgebreitet. Auch das Abbrennen der Felder und Landflächen um die Dörfer der Suryoye im Tur Abdin durch die lokalen Funktionäre hatte nichts anderes zum Ziel, als die kleine vor Ort übriggebliebene christliche Bevölkerungsgruppe zu vertreiben.
Der bekannte Satz des Gründers der türkischen Republik Atatürk: „Frieden im Land, Frieden auf der Welt“, wird mit Füßen getreten. Stattdessen prägt heute das Prinzip: „Krieg im Land, Krieg auf der Welt“. Weil die Türkei keinen inneren Frieden hat, wird sie zum Angreifer auf benachbarte Länder und Völker. Schon immer hat die Türkei versucht, von ihrer Geschichte und den inneren Konflikten abzulenken. Daher gelingt es ihr auch nicht, die inneren Unruhen in den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die Polarisierung und Entfremdung, aufzulösen.
Die Unruhen in der Türkei sind nicht begrenzt auf das Landesinnere. Mit Griechenland und Zypern liegt es wegen der Suche nach Erdgas im Mittelmeer im Streit, mit Armenien wegen der Gefechte um Bergkarabach, mit Libyen durch das Unterstützen der Muslimbrüder, nur um einige Konflikte mit benachbarten Staaten zu nennen. Die Türkei sieht jeden Prozess um sich herum als eine Bedrohung. Daher erfolgte auch der Einmarsch in Nordsyrien sowie in den Nordirak. Jedem Aufkommen von Autonomiebestrebungen in der Ninive-Ebene oder in den Shingal-Gebirgen wird ohne Zögern entgegengetreten. Auch wenn dieses Verhalten seitens der Türkei als reflexartig angesehen wird, so steckt doch dahinter der tiefe Nationalismus, die Ideologie eines ausschließlich türkisch – muslimischen Nationalismus. Es ist das Festhalten an den Vorstellungen der Jungtürken nach dem 1. Weltkrieg.
Nach den Angriffen auf Zypern folgte die Einmischung der Türkei in den Norden Syriens und die Einnahme der Grenzstädte Afrin und Kobane. Wenn sich niemand der Türkei in den Weg gestellt hätte, würde sie heute auch die autonome Regierung des Nordostens Syriens stürzen wollen. Man wollte auch für diesen Zweck die Suryoye und die anderen christlichen Minderheiten als Vorwand nehmen und sich damit legitimieren. Aber durch das Wirken der internationalen Koalition – speziell der USA – wurde die Türkei gestoppt. Das türkische Ziel war klar: das Zerstören der autonomen Verwaltung im Nordosten Syriens, die durch Suryoye, Kurden und Araber geformt wurde. Um das zu erreichen, gab es viele Provokationen. Da dies nichts brachte, versuchte man die Suryoye, Kurden und Araber, die gegen die autonome Verwaltung sind, auf türkische Seite zu bringen. Aber auch das scheiterte. Das heißt nicht, dass die Gefahr einer türkischen Invasion im Nordosten Syriens vorbei ist. Die Türkei wartet weiterhin auf eine Gelegenheit, Kräfte gegen die Autonomie auf ihre Seite zu bringen, um diese dann zu stürzen.
Die autonome Selbstverwaltung wurde 2015 durch gemeinsame Bestrebungen der Suryoye, Kurden und Araber gegründet. Als Fundament gilt das Prinzip, dass jeder Teil der Bevölkerung in seiner Muttersprache lehren darf, seine Muttersprache sprechen und seine Identität wahren kann. In der Verfassung ist festgehalten, dass jedes Volk seine Bräuche und Sitten, Religion und Kultur ohne Einschränkung bewahren und leben darf – mit gegenseitigem Respekt. Ohne Zweifel gibt es noch Unzulänglichkeiten und Verbesserungsbedarf. Es ist der Anfang eines Prozesses, in dem verschiedene Volksangehörige gleichberechtigt miteinander leben können, der weiter ausgebaut werden muss.
Ich sehe dies als wichtigen Schritt für viele Völker des Nahen Ostens. Ich sehe es sogar als Modell an, welches viele Probleme und Konflikte der vielen unterschiedlichen Ethnien, Religionen und Kulturen lösen kann. Leider wird die Selbstverwaltung von aktuellen Machthabern und Staaten, die ihren Status behalten wollen, nicht akzeptiert. Ganz oben steht die Türkei, die ihre Beziehungen zum IS und anderen terroristischen Organisationen leugnet. Mit diesen Beziehungen versucht sie Unruhe in den Nachbarländern zu stiften und radikale Muslime gegen aufkommende demokratische Bestrebungen zu unterstützen. Für sie ist jede Öffnung, jeder neue Frieden auf Basis von Gleichberechtigung eine Bedrohung für ihr Staatsgebiet.
Heute sind auch die Suryoye wachsamer geworden, was ihre Nationalität und ihre eigenen Bedürfnisse in ihrer Heimat angeht.
Sie haben politische Organisationen und Politiker, die sie in der autonomen Selbstverwaltung vertreten.
Sie haben den Syriac Military Council (MFS), der sie militärisch verteidigt.
Sie haben den Sutoro (polizeiliche Kräfte), der für ein friedvolles Miteinander sorgt.
Sie haben Lehrer, die ihre Muttersprache offiziell in den Schulen unterrichten dürfen.
All diese Punkte sind für uns Suryoye ein Gewinn, welcher im Rahmen einer Gleichbehandlung aller Bürger erst den Anfang des erwähnten Prozesses bildet. Weil die Türkei diesen Prozess der Annäherung und Gleichberechtigung unter den Völkern und Ethnien als Bedrohung betrachtet, ist sie innen- wie auch außenpolitisch isoliert. Die Türkei ist zu einem Land verkommen, in dem die eigene Identität kein Anlass zur Freude ist.
Yawsef Beth Turo
Yawsef Beth Turo wurde in Mirde in der Südosttürkei geboren. Nach Abschluss seiner Schulausbildung in der Grund- und Hauptschule, ging er ins Kloster “Dayro du Zahfaran”, wo er seine Ausbildung/Kenntnisse/Erziehung im Arabischen und Aramäischen (Suryoyo) fortsetzte. 1993 zog er in die Niederlande und ließ sich in der Stadt Enschede nieder. Er ist Gründer des Fernsehersenders SuroyoTV, dem weltweit ersten Fernsehersender, der Sendungen in aramäischer Sprache ausgestrahlt hat. Nebenbei ist Yawsef Beth Turo als Aktivist in verschiedenen Institutionen tätig, wie der “Bahro Production” Organisation, dem Enstitut Mesopotamie Bruxelles oder der European Syriac Union ESU.
Der Zentralrat Orientalischer Christen in Deutschland e.V. bedankt sich bei Yawsef Beth Turo für die Überlassung des Artikels.
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