Autor: Jan Gehm
Ort: Deutschland, Qatar
Format: Text
Thema: Gesellschaft, Religion, Minderheiten
Datum: 27.11.2022
Portal: www.zocd.de  
Textdauer: ca. 5 Min.
Sprache: Deutsch

Titel: Kirchen in den Golfstaaten


Das Dubai Evangelical Church Centre (Quelle: Heidi Josua)

 

Kirchen in den Golfstaaten

Interview mit der Religionspädagogin und Orientalistin Heidi Josua zum Thema „Die Situation der Christen im Nahen Osten“ am 19.12.2022.

 

Interviewer: Der Golfstaat Qatar ist derzeit medial weltweit sehr stark vertreten. Als Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft 2022 blickte die ganze Welt auf dieses kleine Land. Im Vorfeld gab es Berichte über Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung der Arbeiter, die die Infrastruktur gebaut haben etc. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Christen und dem Land Qatar?

Heidi Josua: Im allgemeinen Bewusstsein nimmt man Qatar als rein islamisches Land wahr. Aber die Realität ist eine andere. Denn 14 Prozent der Einwohner Qatars sind Christen. Allerdings keine einheimischen Christen, also Qataris, sondern in der überwiegenden Mehrzahl Arbeitsmigranten. Diese kommen vor allem aus dem südostasiatischen Raum, aber viele auch aus anderen arabischen Ländern. In Qatar und den Emiraten haben diese Christen ihre Kirchen, teils in abgeschlossenen Compounds.

 

Interviewer: Wie würdest du christliches Leben im Nahen Osten beschreiben? Was bedeutet christliches Leben in der Region?

Heidi Josua: Da gibt es grundlegende Unterschiede in den einzelnen Ländern; den Nahen Osten oder die arabische / islamische Welt kann man nicht über einen Kamm scheren. In den meisten arabischsprachigen Ländern gibt es Kirchen, die auf das Urchristentum zurückgehen. Die Kopten in Ägypten etwa gehen auf den Evangelisten Markus zurück. So hat jedes Land seinen Apostel oder seine Gründerfigur. Durch diesen Ursprung im frühesten Christentum haben sie eine viel längere christlichen Geschichte als wir im sog. christlichen Westen. Die Situation in diesen Ländern mit einem noch existierenden Urchristentum ist also eine völlig andere als in Ländern, die ab dem 7. Jahrhundert völlig islamisiert worden sind und in denen die Christen heute entweder ausländische Facharbeiter oder Konvertiten aus dem Islam sind. Auch rechtlich leben diese drei Gruppen von Christen unter völlig unterschiedlichen Bedingungen. In Ländern mit einer traditionellen christlichen Bevölkerung haben Kirchen normalerweise ihre eigene Gesetzgebung im Familien- und Kirchenrecht, während das in Ländern wie Nordafrika und den Golfstaaten nicht der Fall ist. Von daher müssen wir wirklich unterscheiden: Haben wir eine traditionelle christliche Bevölkerung oder sind es zugewanderte Christen oder ganz neue Kirchen und Gemeinden.

 

Interviewer: Wie ist die Stellung dieser Arbeitsmigranten in diesen Regionen?

Heidi Josua: Christliche Arbeitsmigranten sind abhängig von ihren einheimischen Arbeitgebern. „Kafala“ ist ein Bürgschaftssystem in Ländern der Arabischen Halbinsel und auch im Libanon, das ausländische Arbeiter quasi zu Leibeigenen ihrer Arbeitgeber macht. Es garantiert ihnen den Aufenthalt und die Arbeitsmöglichkeit dort. Zum Beispiel in den Emiraten werden Leute, die nicht die emiratische Staatsbürgerschaft haben, „Bidunis“ genannt; „bidun“ heißt „ohne“. Das heißt, es sind Menschen ohne Staatsbürgerschaft und mit minderen Bürgerrechten, die ausgeschlossenen sind von bestimmten Berufen und Rechten der Staatsbürger dort.

 

Interviewer: Und wie können sie ihre Religion leben?

Heidi Josua: Sie können ihren Glauben leben, aber im Privaten sowie in einem geschlossenen Kirchen-Biotop. Das hängt damit zusammen, dass Kirchengebäude nicht in die Infrastruktur integriert sind; vielmehr haben die Kirchen Land vom Staat bekommen. Oft ist das dann ein Compound, in dem verschiedene Kirchen versammelt sind. In Jabal Ali im Süden Dubais gibt es einen Compound mit acht Kirchen, umgeben von einer großen Mauer. Es wird kontrolliert, wer diesen Compound betritt. Es müssen Leute sein, die zu diesen Kirchen gehören, also keine Einheimischen. Innerhalb des Compounds sind Gottesdienste, Taufen, alles möglich. Aber außerhalb des Compounds eben nicht. Ich habe einen Pfarrer einer dieser christlichen Gemeinden getroffen, der mir gesagt hat: Ja, wir haben unsere Gottesdienste, dazu Bibelstunden in einem Zimmer im Wohnheim, aber die Arbeitsbelastung der Arbeitsmigranten ist so hoch, dass viele keine Kraft und keine Zeit mehr haben, um am Gottesdienst teilzunehmen. So wird der Freiraum für die Religionsausübung auch durch die Lebensverhältnisse eingeschränkt.

 

Interviewer: Jetzt komme ich nochmal auf Dubai zu sprechen. In der kommenden Ausgabe des Kalenders „Christlicher Orient heute“ gibt es ein Kalenderblatt aus Dubai. Was hat es damit auf sich?

Heidi Josua: Das ist eine Kirche, aus der oft arabische Gottesdienste gestreamt werden. Ich schaue oft arabische Gottesdienste im Internet und bin auf diese evangelische Kirche aus mehrheitlich ägyptischen Christen gestoßen. Dann ist eine Freundin von mir zur Expo nach Dubai geflogen und ich bat sie, mir ein Foto von dieser Kirche mitzubringen. Auch wenn es keine großartige Architektur ist, finde ich total spannend, dass es eben dort Kirchen gibt, wo wir es eigentlich gar nicht vermuten. Viele hier denken, dass Christen dort im Untergrund leben und sich höchstens in Hauskirchen treffen. Und dass es dort richtige Kirchengebäude gibt, war für mich selber neu. Allerdings ist es ja auch ein recht neues Phänomen. Im 2003 erbauten Dubai Evangelical Church Centre teilen sich über 30 Gemeinden das Gebäude und halten nacheinander Gottesdienste.

 

Interviewer: Wie würdest zusammenfassend die Situation beschreiben, was die Religionsfreiheit und Menschenrechte anbelangt in der Region?

Heidi Josua: Wir müssen hier differenzieren: Geht es um die traditionellen Kirchen, die auf das frühe Christentum zurückgehen, so gilt: Diese sind vorhanden und haben ihre Daseinsberechtigung. Das Königshaus in Jordanien betont immer wieder, dass das Christentum integraler Bestandteil des Staates ist. In manchen Parlamenten des Nahen Ostens haben Christen eine garantierte Anzahl von Sitzen. In Ländern der Arabischen Halbinsel sind Kirchen hinter Mauern, nicht sichtbar für die Allgemeinheit. Dort wie auch großteils in Nordafrika sind es Kirchen, zu denen eigentlich nur Ausländer Zutritt haben. Wenn man hier in Deutschland in einen lutherischen oder evangelischen Gottesdienst geht, trifft man in der Regel nicht auf Ausländer. Dort ist es genau andersherum - dort trifft man keine Einheimischen. In Marokko etwa gibt es Wächter vor den Kirchen, die kontrollieren und sicherstellen, dass Einheimische diese Kirchen nicht betreten; sie sind also nur für christliche Ausländer da, die im Land leben und arbeiten oder christliche Flüchtlinge aus der Subsahara-Region. In Ägypten gab es zeitweise Kontrollen wie an Flughäfen mit Passkontrolle und Sicherheitsschleusen; begründet mit Sicherheitsbedenken. Menschenrechte in Form von (relativ) freier Religionsausübung gibt es also für diejenigen die aus einer traditionellen Kirche kommen, aber es gibt eben keine Religionsfreiheit für Einheimische, die der islamischen Mehrheitsreligion angehören. Sie stehen unter dem Vorbehalt, dass sie ihre Religion nicht verlassen können. Wenn sie es das trotzdem machen, wird es problematisch. Jedoch: Die Situation ist ja alles andere als statisch; es gibt an vielen Stellen hoffnungsvolle Entwicklungen. So wurden in Saudi-Arabien in diesem Jahr zum ersten Mal Bibeln auf Buchmessen verkauft – mit Genehmigung der Behörden!

 

Interviewer: Westliche Medien haben in den letzten Wochen besonders über die Behandlung und Rechte von Menschen der LGTBQ Gemeinschaft in Qatar berichtet, würdest du dir das gleiche Engagement für Christen in Qatar oder auch in der gesamten Region wünschen?

Heidi Josua: Also, dieser Gedanke ist mir da auch gekommen, wobei wir verschiedene Formen von Menschenrechtsverletzungen weder vergleichen noch gegeneinander ausspielen sollten. Wer spricht für die Rechte der Menschen, dass sie das Menschenrecht und die Freiheit bekommen, ihre Religion frei zu wählen, was auch einschließt, ggfs. ihre Religion zu verlassen? Es gibt de facto viele Menschen in der Region, die sich innerlich eigentlich von der Religion verabschiedet haben, es aber äußerlich nicht tun können. Von den großen Kirchen in Deutschland waren die Hinweise dazu eher piano – und damit eine verpasste Chance.

 

Interviewer: Zum Schluss komme ich auf deine Herausgeberschaft des Kalenders „Christlicher Orient heute“ zu sprechen. In der kommenden Ausgabe für das Jahr 2023 wird es wie zuvor angesprochen neben Syrien, Ägypten, Jordanien, Irak und Ikonen auch ein Kalenderblatt aus Dubai geben. Welche Botschaft willst du mit diesem Kalender vermitteln und für wen ist dieser Kalender gedacht?

Heidi Josua: Es geht darum, Menschen, die hier keine Stimme oder nur eine sehr leise Stimme haben, einfach ein Gesicht zu geben. Und zwar nicht das Gesicht, dass man in jeder Zeitung und jeder Nachrichtensendung sieht; also wenn mal wieder eine Kirche brennt oder eine Bombe hochgegangen ist. Nicht ein Blick von außen, sondern ein Blick von innen, von den Menschen selbst. Deshalb sind es Fotos aus allen Epochen, also historische Stätten, aber hauptsächlich die aktuelle Situation sowie Menschen im Vollzug ihrer Religion, etwa eine Taufe. Oder in diesem Kalender sind es Mädchen in Kairo, die miteinander beten. Es geht darum, einen Blick zu bekommen für Menschen, die unsere Geschwister sind. Die Bilder in den Medien sind ja nicht falsch, aber sie zeigen nur einen Ausschnitt aus einer viel größeren, viel lebendigeren und viel hoffnungsvolleren Wirklichkeit.

Was mich auch stört, ist dass wir hier in Deutschland Christen des Nahen Ostens, orientalische Christen, überwiegend in der Opferperspektive sehen. Natürlich ist die Situation dort viel schwieriger als hierzulande, natürlich gibt es Verfolgung, Diskriminierung, Marginalisierung in allen Schattierungen, und in jedem Land auf andere Weise. Das ist immer auch Teil der Motive und der Texte im Kalender. Aber dieser Aspekt darf nicht zur Viktimisierung führen, was immer ein Ungleichgewicht bedeutet. Vielmehr ist er Aufruf zum Gebet und zur Frage: Wie gehe ich geistlich mit solchen Negativ-Situationen um? Und: Was kann ich lernen, wenn ich über den eigenen Tellerrand hinausschaue, die eigene Bubble verlasse, wenn ich Menschen auf gleicher Augenhöhe wertschätzend begegne und ihren geschichtlichen und geistlichen Reichtum entdecke? 

Und dann geht es um Geschwisterlichkeit im Glauben, das was man als ökumenischen Aspekt bezeichnen könnte. Wie der koptische Papst Tawadros II. sagte: „Was uns verbindet, ist mehr als das, was uns trennt.“ Ich bin nicht nur interkulturell mit dem Nahen Osten verheiratet, sondern habe dort Menschen, die zu meinen engsten Freunden geworden sind, mit denen ich mich austausche, von denen ich unendlich viel gelernt habe, die meinen Glauben und mein Leben bereichern. Natürlich ist erst mal vieles anders. Aber letztendlich gibt es mir und uns eine andere, neue und belebende Perspektive.  

 

Interviewer: Wem würdest du diesen Kalender ans Herz legen?

Heidi Josua: Eigentlich ist er gerichtet an Christen und christliche Gemeinden, die ihren Horizont erweitern wollen, die auch Neues entdecken wollen, im ökumenischen Miteinander über die anderen Kirchen. Ich habe dadurch ganz interessante Erfahrungen gemacht mit den altorientalischen Kirchen. Sie fragten mich, wieso ich so positiv über die orthodoxen Kirchen schreibe, obwohl diese einen eher negativen Blick auf die Evangelischen haben. Das hat viele Türen geöffnet. Aber es hat sich auch die Sichtweise von Evangelischen geändert, die sich die orthodoxen Kirchen als in Traditionen erstarrt vorgestellt hatten. Und dann sehen sie die Fotos, die Ikonen und die Texte und entdecken, wie viel geistlicher Reichtum und Tiefgang darin verborgen ist. Von daher ist der Kalender auch ein Brückenbauer zwischen den Konfessionen und Ländern. Wie gut, wenn man in dem „Anderen“ Gutes und Gewinnbringendes entdeckt und begreift, dass wir als Geschwister in Christus unterwegs sind zur einen Zukunft Gottes!

 Mehr Details zum Kalender "Christlicher Orient heute" finden Sie auf der Webseite des Salam Centers oder hier als PDF.