Autor: Ferit Tekbas
Ort: Äthiopien
Thema: Gesellschaft, Frauenrechte & Minderheiten
Datum: 28.11.2025
Textdauer: ca. 5 Minuten
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Zur Person:
Gerhard (Gerd) Steffes, Jahrgang 1959, studierte European Administrative Management und promovierte anschließend zum Dr. phil. mit einer Dissertation über den Europäischen Integrationsprozess. Über nahezu drei Jahrzehnte war er für die Europäische Kommission in Brüssel, Luxemburg und Addis Abeba tätig, überwiegend im Bereich der Gesundheitspolitik. 
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 Quelle: Gerd Steffes
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Seit 2008 engagiert sich Dr. Steffes ehrenamtlich in Äthiopien, zunächst im Bildungssektor. Ab 2012 verlagerte er seinen Schwerpunkt auf die Unterstützung benachteiligter Mädchen mit medizinischen Problemen sowie auf den Aufbau und die Betreuung zweier Grundschulen im äthiopischen Hochland. Diese Projekte werden seit 2018 durch den von ihm gegründeten gemeinnützigen Verein JUMP Mädchenhilfe Äthiopien mit Sitz in Trier koordiniert. 
Tatkräftige Unterstützung erhält er von seiner Frau Tigist, die 1991 aus Addis Abeba nach Deutschland kam und seit über 30 Jahren als examinierte Intensivpflegekraft arbeitet – eine Expertise, die den Projekten vielfach zugutekommt. Gemeinsam führen sie eine Patchworkfamilie mit fünf erwachsenen Kindern und fünf Enkelkindern.
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Zwei Welten, ein Licht: Trier und Äthiopien im Zeichen von Glauben und Hoffnung
 
Lieber Gerd, seit unserer gemeinsamen Afrikareise fühlen wir uns dir als gebürtigem Trierer und deiner Frau Tigist, die aus Äthiopien stammt, besonders verbunden. Beide Orte wurden bereits im 4. Jahrhundert christlich und teilen damit eine erstaunliche historische Verbindung. Welche persönliche Bedeutung hat diese Verbindung für dich, wenn du auf deine beiden „Heimaten” blickst?
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Gerhard Steffes: Wer – so wie ich – in Trier geboren oder aufgewachsen ist, kann sich der Geschichte Kaiser Konstantins des Großen und seiner Mutter Helena kaum entziehen. In keiner anderen deutschen Stadt ist die Antike so greifbar und nirgendwo sonst verschmelzen römisches Erbe und christliche Tradition so intensiv miteinander.
Als Konstantin Trier zu Beginn des 4. Jahrhunderts zu einer seiner kaiserlichen Residenzen machte, wurde die Stadt zu einem politischen und religiösen Zentrum des Römischen Reiches. Mit dem Edikt von Mailand im Jahr 313 gewährte er den Christen Religionsfreiheit – ein Wendepunkt, der die Christianisierung Europas prägen sollte. Seine Mutter Helena wurde durch ihre legendäre Pilgerreise ins Heilige Land zu einer der bedeutendsten
Frauengestalten der frühen Kirche.
Konstantin und Helena prägen bis heute das Selbstverständnis meiner Heimatstadt.
Was ich bis zu meiner ersten Reise nach Äthiopien nicht wusste, ist, dass es eine Verbindung zwischen meiner Heimatstadt Trier und Äthiopien, das mittlerweile zu meiner „zweiten Heimat“ geworden ist, bezüglich der Christianisierung gibt:  Auch Äthiopien wurde im 4. Jahrhundert christlich – ebenfalls im Austausch mit dem Römischen Reich.
 
Welche Bedeutung hatte das axumitische Reich für die frühe Verbreitung des Christentums in Äthiopien? Und wie prägen die besonderen Traditionen der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche, wie etwa die Feier des Sabbats oder die Verehrung der Bundeslade, bis heute das religiöse Selbstverständnis des Landes? 
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Gerhard Steffes: Das Christentum gelangte bereits früh in das Gebiet des heutigen Äthiopiens. Das axumitische Reich (1.–7. Jh. n. Chr.) entwickelte sich zu einem der ersten christlichen Königreiche der Welt und zu einem wichtigen Vermittler zwischen Afrika und dem Mittelmeerraum.
Maßgeblich beeinflusst wurde dieser Prozess durch Handelsbeziehungen zum Römischen Reich und
Missionare aus Alexandria.
Über die Jahrhunderte bewahrte die Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche eine einzigartige Ausdrucksform des Glaubens, die reich an alttestamentlichen und jüdischen Elementen ist: die Beschneidung, die Feier des Sabbats neben dem Sonntag und die besondere Verehrung der Bundeslade (Tabot).
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Quelle: Gerd Steffes. Wandmalereien mit Ikonen zieren die Wände des Klosters Zege.
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Wie hast du deine erste Begegnung mit der äthiopisch-orthodoxen Kirche und Abt Abaechati erlebt? Was ist dir aus diesem Moment besonders in Erinnerung geblieben? 
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Gerhard Steffes: Meine erste Begegnung mit dieser Kirche liegt fast zwanzig Jahre zurück. Auf der Zege-Halbinsel im Tana-See betrat ich ein altes Kloster, dessen leuchtende Wandmalereien mich sofort in ihren Bann zogen: Biblische Szenen in kräftigen Farben, die selbst nach Jahrhunderten nichts von ihrer Strahlkraft verloren hatten. Die uralten Bibeln, die auf Ziegenleder geschrieben waren, empfand ich wie Zeugnisse aus einer anderen Zeit.
Unauslöschlich im Gedächtnis blieb mir Abt Abaechati – ein Mann von stiller Würde und außergewöhnlicher
Präsenz. Ich erzählte ihm von Trier und dem Grab des Apostels Matthias, ohne damals zu ahnen, dass ich ihn noch oft wiedersehen und ihm schließlich ein kleines Kreuz aus der Abtei St. Matthias überreichen würde – als Zeichen der Verbindung zwischen unseren Welten.
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Quelle: Gerd Steffes mit Abt Abaechati
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Welche Eindrücke und Gefühle hast du bei deinem ersten Besuch der Felsenkirchen von Lalibela gewonnen? Warum war dieser Ort für dich mehr als nur ein Reiseziel?
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Gerhard Steffes: Auch mein erster Besuch der Felsenkirchen in Lalibela im Jahr 2008 ist mir noch in lebhafter Erinnerung. Schon bei der Ankunft spürte ich, dass dieser Ort anders war – still, ehrfürchtig, fast zeitlos. Die schmalen Wege, die sich zwischen den roten Felsen im Bereich der verschieden Kirchen hindurchschlängeln, führten mich in eine Welt, die wie aus einem anderen Jahrhundert zu stammen schien.
Als ich zum ersten Mal vor der in Stein gehauenen Kirche Bet Giyorgis stand, stockte mir der Atem. Der Gedanke, dass Menschen vor Jahrhunderten mit bloßen Händen und unerschütterlichem Glauben diese Meisterwerke geschaffen hatten, erfüllte mich mit tiefer Ehrfurcht.
Ich erinnere mich an den Duft von Weihrauch, an das leise Murmeln der Gebete und an die barfüßigen Pilger, die ihre Hände an die kühlen Felswände legten. In ihren Gesichtern lag eine Ruhe, die mich berührte – eine Gewissheit, die weit über Worte hinausging.
Lalibela war für mich mehr als nur ein Reiseziel. Es war eine Begegnung mit Geschichte, Glauben und Menschlichkeit.
 
Quelle: Gerd Steffes. Die Felsenkirche von Lalibela ist ein besonderes Highlight im Weihnachtsgottesdienst. 1/2
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Quelle: Gerd Steffes. Die Felsenkirche von Lalibela ist ein besonderes Highlight im Weihnachtsgottesdienst. 2/2
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Während deiner langen Wanderungen durch das äthiopische Hochland bist du vielen Menschen begegnet. Was hat dich dabei am stärksten geprägt und welche Werte wie Bescheidenheit, Zufriedenheit und Demut hast du von ihnen mitgenommen?
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Gerhard Steffes: Von Lalibela aus habe ich dann immer wieder (jährlich) tagelange, über 100 km lange, Wanderungen in die naheliegende, recht dünn besiedelte Bergwelt, unternommen.
Die Menschen, denen ich auf meinen Wanderungen im äthiopischen Hochland begegnet bin – besonders in der bis zu 4000 Meter hohen, abgeschiedenen Region des Abune-Yosif-Berges – haben etwas in mir bewegt, das mich bis heute begleitet. Sie haben mein Leben verändert, still und ohne große Worte, allein durch die Art, wie sie leben.
Meist sind es Bauern, manchmal einfache Handwerker. Sie leben im Rhythmus der Natur, von dem, was sie mit ihren eigenen Händen säen und ernten, von dem wenigen Vieh, das sie mit Mühe ernähren können. Ihr Alltag ist geprägt von Entbehrung, doch nie spürt man Bitterkeit.
Es gibt keinen Strom, das Wasser holen sie von weit entfernten Quellen. Nachts wird es so kalt, dass Mensch und Tier gemeinsam in der Hütte schlafen – nicht aus Bequemlichkeit, sondern um die Wärme zu teilen, die das Leben dort oben möglich macht.
Und doch – oder vielleicht gerade deshalb – liegt in ihren Gesichtern ein Frieden, den ich selten zuvor gesehen habe. Eine stille Zufriedenheit, ein Lächeln, das sagt: Wir haben genug. In ihrer Einfachheit liegt eine tiefe Wahrheit, eine Kraft, die mich Demut gelehrt hat.
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Quelle: Gerd Steffes im äthiopischen Hochland 1/2
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 Quelle: Gerd Steffes im äthiopischen Hochland 2/2
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Wie hat sich dein Engagement nach deiner ersten Äthiopienreise entwickelt? Was hat dich dazu bewegt, den Verein JUMP-Mädchenhilfe zu gründen und bis heute weiterzuführen?
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Gerhard Steffes: Schon unmittelbar nach der ersten Reise begann ich privat mit der Unterstützung junger Menschen durch Finanzierung von Unterkunft, Schulbildung, medizinischer Versorgung.
Nach all den Jahren hat sich daraus der kleiner Verein namens JUMP-Mädchenhilfe Äthiopien entwickelt, ein Projekt, das in erster Linie von mit Familie und Freunden getragen wird. Das Engagement umfasst vor allem die Unterstützung einzelner benachteiligter Mädchen, die medizinische Probleme haben.
Darüber hinaus realisiert der Verein JUMP wichtige Bildungs- und Infrastrukturprojekte, darunter der Bau und die Ausstattung von 2 Bergschulen im Hochland, in denen heute über 400 Kinder lernen können. Auch Wasser- und Hygieneprojekte, wie der Bau von Wasserleitungen für Schulen, gehören zu den aktuellen Vorhaben.
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 Quelle: Gerd Steffes bei JUMP-Mädchenhilfe
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Welche Erfahrungen und Herausforderungen prägen die Arbeit von JUMP heute? Was motiviert dich, trotz politischer Unsicherheiten und begrenzter Ressourcen dein Engagement für Mädchen und Bildungsprojekte in Äthiopien weiterzuführen?
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Gerhard Steffes: Das Engagement von JUMP umfasst vor allem die Unterstützung einzelner Mädchen durch Finanzierung von Unterkunft, Schulbildung, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. Darüber hinaus realisiert der Verein wichtige Bildungs- und Infrastrukturprojekte, darunter der Bau und die Ausstattung von 2 Bergschulen im Hochland, in denen heute über 400 Kinder lernen können. Auch Wasser- und Hygieneprojekte, wie der Bau von Wasserleitungen für Schulen, gehören zu den aktuellen Vorhaben.
Die Arbeit von JUMP zeichnet sich durch einen gezielten Fokus auf Bildung, Gesundheit und langfristige Hilfe zur Selbsthilfe aus. Durch transparente Projektinformationen und direkte Unterstützung zeigt der Verein eine klare soziale Wirkung. Gleichzeitig steht die Initiative vor Herausforderungen wie politischer Instabilität in Äthiopien, der Abhängigkeit von Spenden und der begrenzten Größe des Projekts, das stark vom persönlichen Einsatz getragen wird.
Hier der Link zu dem Projekt: www.jump-ethiopia.de
 
Wie blickst du auf die wechselvolle Geschichte Äthiopiens – von der Monarchie über das Derg-Regime und die TPLF-Herrschaft bis zu den aktuellen Reformen? Welche Bedeutung haben diese politischen Umbrüche bis heute für das Land und seine Bevölkerung?
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Gerhard Steffes: Äthiopien war über seine lange Geschichte hinweg von inneren Machtkämpfen geprägt, blieb jedoch aufgrund seines schwer zugänglichen Hochlands weitgehend vor äußeren Eroberungen geschützt. Italien scheiterte mehrfach daran, das abessinische Hochland dauerhaft zu kontrollieren; die kurze Besetzung von 1936 bis 1941 blieb eine Ausnahme.
1974 markierte der Sturz und die spätere Ermordung Kaiser Haile Selassies eine tiefgreifende historische Zäsur und das Ende der jahrtausendealten Monarchie. Es folgte das autoritäre, marxistisch-leninistische Derg-Regime, das das Land durch Repression und Kriege destabilisierte. 1991 wurde der Derg durch Rebellen unter Führung der Tigray People’s Liberation Front (TPLF) gestürzt, woraufhin Eritrea unabhängig wurde.
Die TPLF dominierte anschließend die neue föderale, ethnisch aufgebaute Staatsordnung, die offiziell Minderheiten stärken sollte, in der Praxis aber zu politischer Zentralisierung und wachsender Unzufriedenheit führte. Nach landesweiten Protesten übernahm 2018 Abiy Ahmed die Regierungsführung und leitete Reformen ein. Gleichzeitig traten tief verwurzelte ethnische Konflikte offen hervor, die in neue Gewalteskalationen und insbesondere den Krieg in Tigray mündeten. Bis heute bleiben viele Regionen Äthiopiens von Instabilität und Kämpfen betroffen, während die Hauptstadt Addis Abeba vergleichsweise ruhig bleibt.
 
Du hast nicht nur Semehewn gerettet, sondern auch Bezawit und Titina aus lebensbedrohlichen Situationen befreit. Würdest du uns die ganze Geschichte erzählen – wie du den drei Mädchen Hoffnung und Zukunft geschenkt hast und was dich dabei am meisten bewegt hat?
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Gerhard Steffes: Im Februar 2012 ging ich durch die Straßen von Bahir Dar, einer Stadt mit rund einer halben Million Einwohnern im Nordwesten Äthiopiens. Plötzlich blieb mein Blick an einem kleinen Mädchen hängen: Sie humpelte, ihr Bein war offen und von einer schweren Infektion zerfressen. Ich sprach ihren Vater an und bot an, sie ins Krankenhaus zu bringen. Zunächst lehnte er ab – doch ich beharrte darauf und gab ihm schließlich 50 Euro. Widerwillig stimmte er zu. 
Es gelang mir, eine Operation zu organisieren, die ich privat finanzierte. Sie rettete dem Mädchen, Semehewn, das Leben. Doch kurz darauf weigerte sich ihr Vater, sich weiter um seine sechsjährige Tochter zu kümmern. Also übernahm ich die Verantwortung für sie und ermöglichte zwei weitere dringend notwendige Eingriffe. 
Später erfuhr ich von Semehewns älterer Schwester Bezawit. Sie war damals zwölf Jahre alt und arbeitete als Putzhilfe in einem Bordell – ohne Lohn, ohne Schulbesuch, mit der Aussicht, irgendwann selbst in der Prostitution zu landen. Ihr ganzes Leben passte in eine einzige Plastiktüte. Ich holte sie dort heraus. 
Für die beiden Schwestern fand ich eine Pflegemutter und mietete ein kleines Haus. Die Pflegemutter brachte ihre zehnjährige Enkelin Titina mit, deren Eltern an Aids gestorben waren. Auch sie hatte nie eine Schule besucht. Schließlich gelang es mir, für alle drei Mädchen Schulplätze in einem SOS-Kinderdorf zu organisieren. 
Heute zeigt sich, dass jeder Schritt richtig war: Die beiden älteren Mädchen studieren inzwischen Informatik, die jüngste – Semehewn – steht kurz vor dem Abitur und möchte Medizin studieren. Ich besuche die drei zweimal im Jahr. Jedes Mal holen sie mich am Flughafen ab – und jedes Mal fließen Freudentränen.
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Quelle: Gerd Steffes. Semehewn als Kind.

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Quelle: Gerd Steffes. Schwere Infektion von Semehewn als Kind.

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Quelle: Gerd Steffes. Semehewn mit Gerd heute.
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