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Die von den einzelnen Autoren veröffentlichten Texte geben ausschließlich deren Meinung wieder und nicht die der bearbeitenden Redaktionen und Veröffentlichungsplattformen
  
Autor: Daniela Hofmann
Ort: Augsburg, Deutschland
Format: Text
Thema: Gesellschaft, Religion
Datum: 26.02.2021
Portal: www.zocd.de
Textdauer: ca. 10 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Im Interview: Simon Jacob zur bevorstehenden Papstreise in den Irak und die Situation der Orientalischen Christen vor Ort und in der Diaspora
  
(Vom IS entweihte Kirche in Bartella/Niniveh Ebene, Irak)

Im Interview: Simon Jacob zur bevorstehenden Papstreise in den Irak und die Situation der Orientalischen Christen vor Ort und in der Diaspora

 
Mit großer Spannung wird die anstehende Reise von Papst Franziskus in den Irak erwartet. Ich sprach mit dem freien Journalisten und Nahostexperten Simon Jacob über die Situation der Orientalischen Christen und ihre Sichtweise. Jacob, 1978 geboren im Tur Abdin (Südosttürkei), gehört der syrisch-orthodoxen Kirche an und kam als zweijähriges Kind mit seinen Eltern aufgrund der religiösen und ethnischen Spannungen in der Türkei nach Deutschland. Seine immer noch bestehenden familiären Beziehungen in den Nahen Osten haben es ihm in den letzten Jahren ermöglicht - teilweise unter Einsatz seines Lebens - an Orte zu gelangen, die westlichen Journalisten nicht so einfach zugänglich sind, um über die Situation der Christen und die Gräueltaten des IS zu berichten.
 
Herr Jacob, wie viele orientalische Christen leben in Deutschland?
Die letzte objektive Einschätzung geht auf eine Erhebung zwischen 2012 und 2014 zurück, als der Zentralrat Orientalischer Christen in Deutschland e.V. - ZOCD die vielfältigen nahöstlichen Denominationen, die ihr Siedlungsgebiet im Nahen Osten oder Ägypten hatten, befragte. Die größte nahöstliche Kirche in Deutschland, die dem syrisch – orthodoxen Ritus folgt, zählte damals anhand des Familienregisters in der Bistumsverwaltung mindestens 100.000 Mitglieder. Das war schon für damals sehr konservativ gerechnet, da nicht alle Mitglieder registriert sind. Speisten sich die Christen und Christinnen bis in die 90er des letzten Jahrhunderts hinein hauptsächlich aus dem südostanatolischen Raum, so kamen in den letzten Jahren die meisten Gemeindemitglieder in Wellen aus dem Irak oder Syrien. Bedingt durch den permanenten Exodus entstanden auch größere Gemeinden der Assyrisch-Apostolischen Kirche sowie der mit Rom unierten chaldäischen und syr.-katholischen Strömung. Zusätzlich betrachten sich auch die Angehörigen der Rum – Orthodoxen Kirche, die dem byzantinischen Ritus folgen und im türkischen Antiochien angesiedelt sind, als territorial dem Nahen Osten zugehörig. Gleiches gilt für die große koptische Gemeinde in Deutschland, die ihren Ursprung in Ägypten hat. Selbst die Armenisch – Orthodoxe Kirche, die noch kleine Gemeinden in der Türkei, dem Irak, Iran und Syrien hat, betrachtet sich zwar nicht territorial, aber innerhalb der Familie der sogenannten „Altorientalischen Kirchen“ dem Orient zugehörig.
 
Ausgehend von diesen Zahlen sprechen wir, konservativ geschätzt, von ca. 200.000 Christen mit nahöstlichen und nordafrikanischen Wurzeln, die heute in Deutschland leben. In Anbetracht der Flüchtlingswellen zwischen 2012 und 2017 und unter Berücksichtigung der Bürgerkriegssituation in Syrien und den immensen Flüchtlingsströmen aus den konfligierenden Regionen, gehe ich persönlich mittlerweile von einer Verdoppelung der Gemeindemitglieder aus. Als Basis für die Hochrechnung nehmen wir die Verdopplung der Familien in den nahöstlich  - christlichen Hochburgen Deutschlands, wie z.B. Gütersloh oder Augsburg. Und das ist ebenfalls konservativ gerechnet, da sich manche Gemeinden sogar verdreifacht oder in der Gänze neu gegründet haben. Vor 1990 gab es in München z.B. keine nahöstlich – christlichen Gemeinden. Dies hat sich nun geändert. Meines Wissens nach sind sogar in den neuen Bundesländern neue Gemeinden entstanden.
 
Wie hat sich die Zahl der Christen, die vor Verfolgung und Gewalt nach Deutschland geflüchtet sind, in den vergangenen Jahren entwickelt?
Beginnend mit Konflikten in der Südosttürkei (Türkei – Kurden) in den 70er Jahren sowie weiteren, mal stärker mal schwächer zu interpretierenden Flüchtlingswellen aus dem Irak, Syrien und Ägypten, ist davon auszugehen, dass die meisten im Westen (Europa, USA, Australien…) lebenden christlich – nahöstlichen Mitbürger aus Sorge vor Kriegen, Unterdrückung, geringem Schutz und Repressalien aus der ehemaligen Heimat geflohen sind und auch als Flüchtlinge gemäß der UN-Flüchtlingskonvention anerkannt wurden.
 
Wenn wir uns die Zunahme der Gemeindemitglieder ansehen, ist subjektiv betrachtet ein immenser Anstieg festzustellen. In manchen Gemeinden kommt man mit dem Taufen der Neugeborenen nicht mehr hinterher.
 
Wie würden Sie die Lage der orientalischen Christen in Deutschland beschreiben?
Alle, ohne Ausnahme, dies gilt auch für Christen aus Syrien und anderen Regionen des Nahen Ostens oder Nordafrika, sind mehr als glücklich Sicherheit genießen zu können, ohne Angst vor Anschlägen oder Entführungen leben zu müssen, als gleichgestellte Bürger leben zu können. Natürlich spielen auch das Bildungs- und Berufsangebot eine große Rolle. Die allermeisten Neubürger mit nahöstlich – und nordafrikanischen Wurzeln passen sich sehr schnell der neuen Gesellschaft an, nutzen die Bildungschancen und versuchen Krieg, Verfolgung und Terror hinter sich zu lassen. Allerdings besorgt mich zunehmend die Tatsache, herausgeleitet aus den äußerst negativen Erfahrungen mit extremistischen Gruppierungen wie dem sogenannten Islamischen Staat, dass viele christliche Flüchtlinge, geprägt durch eine Momentaufnahme aus der ursprünglichen Heimat, ein extrem negatives und eingeengtes Bild vom Islam haben. Diese Tatsache machen sich sowohl politische Parteien am rechten Rand wie auch Populisten zunutze. Ähnliches konnte ich während eines längeren Aufenthaltes Anfang 2020 in den USA feststellen. Trump musste noch nicht einmal auf Stimmenfang gehen. So ergab das Ergebnis von Stichproben, dass viele der amerikanisch – nahöstlichen Christen  aus Angst vor dem Politischen Islam Trump gewählt haben. Meiner Einschätzung nach verhält es sich in Deutschland, besonders in Anbetracht der Flüchtlingswellen seit 1990, ähnlich. Viele dürften rechts – außen Parteien nicht abgeneigt sein. Folglich ist das Demokratieverständnis, pluralistisch betrachtet, noch nicht endgültig ausgereift.
 
Auf welche Probleme stoßen sie hier und was müsste dagegen unternommen werden?
Zunächst einmal ist da die politische Wahrnehmung. Unerklärlicherweise war vielen Politkern in Deutschland nicht bewusst, dass es hier große Gemeinden gibt, die zwar ihren Ursprung im Nahen Osten, der Levante oder Nordafrika haben, die aber christlich sind. Und vielen ist es immer noch nicht bewusst. Diese Ignoranz ist schon erstaunlich. Ähnlich verhält es sich mit den Medien. Nahöstliche Christen, die in Deutschland leben, finden selten Gehör. So wurde z.B. während der barbarischen Herrschaft des IS überproportional viel über die Jesiden berichtet, die schlimmsten Bedrohungen ausgesetzt sind. Doch in nicht einer einzigen Talkshow, wirklich in keiner einzigen, kam ein Vertreter nahöstlich – deutscher Christen zu Wort. Ironischerweise überließ man es einmal Katholiken, einmal Protestanten, zuweilen auch Atheisten über sie zu berichten, sofern überhaupt von ihnen gesprochen wurde. Diese fehlende Wahrnehmung hat dazu geführt, dass Ängste, die bereits vor der Flucht vorhanden waren und besonders im Zusammenhang mit dem Politischen Islam stehen, sogar noch verstärkt wurden. Die Sozialen Medien wirken hierbei wie ein Brandbeschleuniger. Terrororganisation wie der IS sind sich aufgrund der sprachlichen und kulturellen Nähe dieser Tatsache bewusst, und verbreiten selbst unter den nahöstlichen Christen in Deutschland Terrormeldungen. Dies schürt, wie bereits erwähnt, massive Ängste, was Populisten Tür und Tor öffnet und mit der Spaltung der Gesellschaft einhergeht - übrigens ein primäres Ziel, welches Organisationen wie der IS, aber auch die Muslimbrüder gemäß der Doktrin des Gründers, verfolgen. In der langen Zeit meiner medialen und politischen Aktivitäten habe ich leider feststellen müssen, dass weder Pädagogen noch Politiker aber auch nicht die Medien diese Gefahr, die hauptsächlich im digitalen Raum stattfindet, verstanden haben.
 
Diese digitale Angst, das Gefangensein in der Filterblase, die Angst vor dem „Islam“ und dessen intoleranter Auslegung, spielt Fanatikern und Dogmatikern gleichermaßen in die Hände.
 
Wie ist das Verhältnis zwischen orientalischen Christen und anderen Flüchtlingen aus der Region?
Unterschiedlich, da Flüchtlinge Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Gesinnungen sind. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2015/2016 gab es Spannungen in den Flüchtlingsheimen. Nicht alle hatten religiöse Gründe, aber es waren doch einige dabei. Das war besorgniserregend. An den jeweiligen Studien war ich selbst beteiligt und konnte auch Fälle faktisch belegen. Zuweilen herrscht Misstrauen aufgrund der Konflikte zwischen den religiös  - ethnischen Gruppierungen im Irak und in Syrien. So z.B. auch zwischen Sunniten und Schiiten. Allerdings gibt es auch den kulturellen Narrativ, welcher verbindet. Der Großteil, vom Misstrauen gegenüber dem Islam im Allgemeinen abgesehen, kommt miteinander klar. Ein kleiner Teil hat allerdings dogmatische und radikale Ansichten. Dieser Teil ist auch für Europa brandgefährlich weil er die Angst, besonders bei den christlichen Neuankömmlingen, immens vertieft.
 
Wie schätzen Sie die Lage für die Christen im Irak selbst ein?
Von den schätzungsweise 150.000 bis 250.000 verbliebenen Christen, die der Ethnie der Assyrer, Chaldäer oder Syricas (Syrer) zuzuordnen sind, sitzen die meisten auf gepackten Koffern und es ist zu befürchten, dass sie, sofern sich an ihrer Sicherheitslage nichts ändert, das Land verlassen werden. Der Artikel 125 der irakischen Verfassung legitimiert eigentlich die Errichtung einer Autonomieregion für die christlichen Assyrer, Chaldäer, Syriacs sowie auch Jesiden und Turkmenen in der Ninive – Ebene, ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet. 2006/2007 wäre es auch, unterstützt durch die damalige US Administration, fast zu einer eigenen Autonomieregion gekommen, in der sich christlich und jesidische Ethnien hätten selber verwalten können, bekannt auch unter dem Namen „Ninive – Plains – Project“. Ironischerweise waren es die Kirchen, an vorderster Stelle die Vertreter der katholischen Kirche, die sich dagegen aussprachen. Begründung: man könne die Sicherheit nicht garantieren und dies solle besser von staatlicher Seite übernommen werden. 2014 kam der IS auf den Plan. Weder der Staat noch die Kurdische Autonomieregion war imstande, Jesiden, Christen oder auch Schiiten zu schützen. Die Folge war ein gewaltiger Exodus, der bis heute anhält. Ergo war die damalige Entscheidung der Kirchen, meines Erachtens nach, falsch. Inzwischen haben sich christlich – ethnische Milizen, die von der Diaspora unterstützt werden, als Antwort auf den IS gebildet, die den Schutz der Gemeinden übernommen haben. In diesem Zusammenhang sollten, gerade im Hinblick auf die aktuelle Überarbeitung der Verfassung, die Pläne von 2007/2008 wieder in Betracht gezogen werden, um der Ninive Ebene mit ihren verbliebenen christlichen und jesidischen Bewohnern, eingebettet in einem föderalen System, Autonomie zu gewähren.
 
Dies wäre die einzige Möglichkeit, um den Exodus zu stoppen. Zusätzlich braucht es Sicherheitsgarantien für die indigenen Völker der Ninive-Ebene, die endlich einen eigenen Ort der Sicherheit und Eigenverwaltung verdient haben.
 
Welche Bedeutung messen Sie der anstehenden Papstreise bei?
Die Papstreise hat eine symbolische Bedeutung, besonders für die mit Rom unierten Kirchen - mehr aber auch nicht, sofern man die christlichen Bürger des Iraks befragt. Wie bereits eingangs erwähnt, ist das Veto der Katholischen Kirche 2006/2007, als es darum ging Autonomie zu erlangen, bei vielen in Erinnerung. Würde sich der Papst für die Autonomiebestrebungen christlicher Ethnien in der Ninive – Ebene aussprechen, wäre der Widerhall sicherlich positiver.
 
Wie bewerten Sie seinen Aufruf an die Christen, möglichst in ihrer Heimat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren?
Es ist ein an Hoffnung gekoppelter Aufruf, der gut gemeint ist, mir aber eher illusorisch erscheint. Solange Sicherheit, bürgerliche Gleichheit, Frieden, die gleichmäßige Verteilung der Reichtümer des Landes und der Kampf gegen die Korruption nicht Vorrang haben, gepaart mit der Aussicht auf Autonomie und Selbstverwaltung in einem föderalen System, werden sie keinen Christen dazu bewegen können im Land zu bleiben; geschweige denn dazu überreden, Europa Richtung Naher Osten zu verlassen. Gleiches gilt übrigens auch für Syrien.
 
Ich danke Herrn Jacob für das ausführliche Gespräch und seine Einschätzung.
 
Daniela Hofmann
 
Weitere interessante Berichte zu diesem Thema finden sich auf der Journalisten-Homepage von Simon Jacob.
 
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Vorträge – Der ZOCD bietet verschiedene Vortragsreihen an, die sich mit gesellschaftsrelevanten Themen beschäftigten. Hier geht es zum Vortragsportal
 
Anfragen sind zu richten an: ZOCD, Frau Daniela Hofmann, Rechte Brandstr. 34, 86167 Augsburg, Tel. 089 24 88 300 52, info@zocd.de