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Autor: Simon Jacob
Ort: München, Deutschland
Format: Text
Thema: Gesellschaft, Religion
Datum: 22.05.2021
Portal: www.zocd.de 
Textdauer: ca. 10 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Gebetswoche für die Einheit der Christen
 
 

Gebetswoche für die Einheit der Christen

 
„Zeit für die Einheit der Menschen“
 
Johannes Offenbarung 7,9 – 7,12:
Danach sah ich: eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen. Sie standen in weißen Gewändern vor dem Thron und vor dem Lamm und trugen Palmzweige in den Händen.
                   
Die Gebetswoche für die Einheit der Christen, eine traditionell ökumenische Veranstaltung der ACK (Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Bayern), fand dieses Jahr, unter Achtung strenger Corona-Regeln, in der St. Matthäus Kirche in München statt. Neben Kardinal Marx (Römisch-Katholische Kirche – Erzbistum München und Freising) und Landesbischof Heinrich Bedford – Strohm (Evangelisch–Lutherische Kirche in Bayern) waren weitere geistliche Vertreter byzantinischer wie auch altorientalischer Kirchen anwesend. Entsprechend durchmischt war das limitierte Publikum. Unter den Anwesenden waren Bürger Münchens mit Wurzeln aus vielen Regionen dieser Welt. Auch ein muslimischer Freund von mir, mit dem ich im Bayerischen Integrationsrat zusammenarbeite, war unter den Gästen.
 
Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich wieder die wunderschöne Matthäuskirche, die ich für mich (nachdem ich sie vor über 15 Jahren erstmalig entdeckte) als eine Art Drehkreuz betrachte, wieder betrat. Den wenigsten Menschen ist wahrscheinlich bewusst, dass die erste St. Matthäuskirche im erzkatholischen München den Beginn der evangelischen Gemeinde in der Bayerischen Hauptstadt markierte. Das war 1833. 1938, auf Drängen Adolf Hitlers, verfügte der NSDAP – Gauleiter in Oberbayern, Adolf Wagner, den Abriss der Kirche. Angeblich sollte der Abbau bzw. die Zerstörung der Kirche einem schöneren Stadtbild dienen. Doch, und das ist aller Wahrscheinlichkeit nach der wahre Grund, sollte die Vernichtung dieses sakralen Ortes dem damaligen Landesbischof Hans Meiser (1881 – 1956) eine Mahnung sein, weil sich dieser gegen die Einverleibung der Evangelisch – Lutherischen Gemeinde in die sogenannte „Deutsche Reichskirche“ wehrte. Die Deutsche Reichskirche, unter Leitung der nationalsozialistischen Vereinigung „Deutscher Christen – DC“, in der alle Christen des Deutschen Reiches einen Platz finden sollten, diente dem Naziregime als Instrument und „religiöse“ Legitimation, um Grausames zu begehen. Nicht zuletzt die fast völlige Auslöschung jüdischen Lebens in Europa. Die Vereinigung „Deutscher Christen – DC“ war zutiefst antisemitisch und befürwortete die Machtergreifung Adolf Hitlers. Am 11. Oktober 1934 wurde Meisner, aufgrund seines Widerstandes, von den Nationalsozialisten in seiner Wohnung verhaftet. Nach zahlreichen Protesten evangelischer Gemeindemitglieder, wurde er 14 Tage später wieder aus der Haft entlassen. Im Juli 1943 schloss sich der bekennende Lutheraner einem Protest des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm bei der Reichsregierung (Nazideutschland) gegen die Vernichtung jüdischen Lebens an. Am 8. Juni 1956 verstarb der sehr aktive Kirchenlenker in München, dessen Ansichten zum jüdischen Leben auch Kritik nach sich zogen. Dennoch erkannte ihn die jüdische Gemeinde, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als feste Instanz an, die im Leben sehr viel Gutes bewirkt hat und gegenüber der Nazidiktatur auch eine Haltung annahm, die Gefahren barg und von Mut zeugte.
 
1953 wurde die Matthäuskirche am Sendlinger Tor in München neu errichtet und steht heute, so jedenfalls für mich, symbolisch für vieles, was eine mutige, offene, vernunftorientierte, aber auch ehrliche und kritische Gesellschaft ausmacht. Persönlich verbinde ich mit diesem sakralen Ort, diesem sakralen Bahnhof und Schmelztiegel der Kulturen, Religionen und Ethnien, eine bedeutende Etappe in meinem Leben. Am 27. August 2013 fand im imposanten Innenraum der Kirche die Gründungsfeier des damals frisch aus der Taufe gehobenen Zentralrates Orientalischer Christen in Deutschland e.V. - kurz ZOCD – statt; unter Leitung des damaligen und jetzigen Herrn des Hauses, Pfarrer Gottfried von Segnitz, dem ich auf Ewigkeit zu Dank verpflichtet bin. Ich war einer der Gründungsmitglieder dieses noch jungen Laienvereins, dessen Hauptaufgabe medialer und gesellschaftlicher Natur ist, und wurde in der ersten Mitgliederversammlung zum Vorsitzenden gewählt. Die anschließende Gründungsfeier, an der Gäste aus verschiedensten Nationen und Kirchen teilnahmen, ist auf der Webseite des ZOCD und auf YouTube immer noch anzusehen.
 
Bei der Veranstaltung am gestrigen Samstag, 22. Mai 2021, an der ich in meiner Funktion als Pressesprecher und politischer Berater des Zentralrates (ZOCD) teilnahm, gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Beginnend damit, dass ich, nachdem ich München verlassen habe, diese Kirche schon seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Ich fühlte Traurigkeit, weil ich meinen guten Freund, Pfarrer Gottfried von Segnitz, in all den Jahren nicht in seinem Pfarramt besucht habe und wir uns aus dem Augen verloren hatten. Während ich die Predigt von Kardinal Marx über die Einheit der Menschen, tief in meinen Erinnerungen versunken, aufnahm, zeichnete ich vor meinem Auge die Ästhetik des Kirschenschiffs nach. Ich versuchte mir vorzustellen, was es bedeutet, wenn Menschen aller Herren Länder, die gerade den nahegelegenen Münchner Bahnhof verlassen, auf diese Kirche treffen und ein- und ausgehen. Erinnerungen manifestierten sich vor meinen Augen. Beginnend mit dem Tag der Gründungsfeier des ZOCD 2013, als Bischof Julius Hanna Aydin (Syrisch – Orthodoxe Kirche), mich segnete und auf eine Reise schickte. Er setze in Anwesenheit zahlreicher Geistlicher, Mitglieder und Gäste verschiedenster christlicher und nichtchristlicher Strömungen in dieser evangelischen Kirche das Kreuz auf meine Schulter, und sagte wortwörtlich: „Trage dieses Kreuz weiter“. Zeitversetzt und immer noch der Predigt von Kardinal Marx lauschend, spielte sich die Szene in Zeitlupe vor meinem inneren Auge ab. „Trage dieses Kreuz weiter“, sagte Bischof Julius zu mir. Leider teilte er mir nicht mit, welches „Kreuz“ dies nun sein sollte. Das byzantinische, das nahöstliche, das evangelische oder etwa das katholische? Wieder zurück in der Gegenwart erfasste ich die Worte des Kardinals. Er sprach in diesem Moment von der Einheit der Christen und ging über zur „Einheit der Menschen.“  Aber unter welchem Gott soll nun die Einheit der Menschen stehen? Unter dem muslimischem, dem christlichen, dem jüdischen, womöglich einer hinduistischen Gottheit? Er beantwortete auch diese Frage mit der Gegebenheit, dass Einheit auch Vielfalt, Diversität, Verschiedenheit bedeutet. Denn ausschließlich auf Einseitigkeit ausgerichtete Systeme, so Marx, die zur Einheit zwingen, seien toxisch und er erinnerte, als mahnendes Beispiel, an die Zeit des Kommunismus und Sozialismus.
 
In meinen Gedanken blickte ich wieder zurück auf die Gründungsfeier des ZOCD 2013 und den Segen, den mir „mein“ Bischof damals erteilte, gepaart mit dem „Kreuz“ welches ich tragen sollte. Es begann für mich eine Reise, an der ich mental und physisch fast zerbrach. Denn die Debatte welches Kreuz, welche Sichtweise, welcher Glaube, welche Ausrichtung nun die richtige sei, beschäftige mich zutiefst und wühlte mich immer wieder auf. Und nicht nur mich, wie ich beim Blick in die jungen Augen vieler Menschen immer wieder feststellte. Dies führte und führt immer noch zu intensiven, exzessiven und teils äußerst kritischen wie auch fragwürdigen Debatten in den nahöstlich geprägten Communities. Erschwerend kommt hinzu, und das ist ein entscheidendes Merkmal im Verhältnis zu einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft, dass Gewalt leider sehr oft Bestandteil der Auseinandersetzungen (in nahöstlichen Gesellschaften)  ist. Ein Konflikt, der auch den Westen beschäftigt und weiterhin beschäftigen wird. Ein Blick Richtung Israel – Palästina reicht aus, um zu begreifen, dass dieser nun auch in Europa wieder präsent ist. Die Digitalisierung, Fluch und Segen zugleich, macht es möglich, in dem das Smartphone, mit brachialen Bildern, Fake – und echten News untermalt, als Einfallstor für Hassprediger, Populisten, Autokraten oder einfach nur enttäuschte Menschen fungiert, und immer mehr Menschen gegeneinander aufstachelt. Das Ausgrenzen, aggressive Verhalten gegenüber anderen, das Misstrauen, die Wut auf den angeblichen und subtil verschwörerischen Gegner, beginnt dann, wenn wir uns abgrenzen und unserem Gegenüber nicht mehr in die Augen blicken. Dem Juden nicht, dem Muslim nicht, Christen unter sich nicht, dem Atheisten nicht, dem sexuell andersorientierten nicht, der Frau, die ein individuelles Leben beansprucht nicht usw. Wenn mir nun damals „mein“ Bischof sagte, ich solle „mein Kreuz“ tragen, so überließ er es mir, meinen Weg zu finden. Und ich suchte meinen Weg. Und dieser Weg war gezeichnet von Fehlern und Erfahrungen. An jenem Tag 2013,  hatte mein Körper in der Matthäuskirche eine Anspannung erreicht, die fast schmerzte. Ich nahm mir vor, meine unbändige innere Kraft zu nutzen, um nur noch für die „eine“ Sache zu stehen, das „eine“ Kreuz zu tragen, „meinem“ Bischof zu folgen, dem „einen“ Glauben… „meinem Glauben“, nachzugehen. Und damit initiierte ich den einen fatalen Fehler, geprägt durch mein Elternhaus und aus der Sichtweise heraus, dass es nur um „meine“ Ethnie, „meinen“ Glauben, „mein“ Leid gehe, welcher zu einer Verkettung von Ereignissen führte, die mich intensiv Krieg, Leid, Terror, Verfolgung und den Tod vieler Freunde, in den Wirren der Konflikte im Nahen Osten, erfahren ließen. Aber auch die inzwischen teils widerwärtigen, von Antisemitismus, Islamophobie, Christianophobie, kruden Verschwörungstheorien bis hin zu rechter, linker wie auch religiöser Hetze geprägten Debatten in der westlichen Welt, beschäftigen und besorgen mich zutiefst.
 
Und so traf ich vor vielen Jahren, als ich verzweifelt durch eine zerstörte Stadt im Irak lief, die eher wie eine Kraterlandschaft aussah und in der verbrannte Leichen herumlagen, den Entschluss, dass ich nicht mehr gewillt bin, mich der Arroganz und Ignoranz hinzugeben und „meinen“ Glauben, „meine“ Lebensweise, „meine“ Interpretation des Lebens als die „einzig“ wahre zu betrachten. Einheit manifestiert sich in der Vielfalt. Erzwungene Einheit unter „einem“ Banner, „einer“ Religion, „einer“ politischen Partei, nur „einem“, dem „einen Kreuz“, ist keine Einheit und bildet die Saat für brodelnde Konflikte, die zunehmend sowohl im digitalen Raum als auch analog ausgetragen werden.
 
Die Predigt von Kardinal Marx endete hier. Den ökumenischen Gottesdienst eröffnete Landesbischof Bedford – Strohm. Beides Vertreter der zwei großen westlichen Kirchen, deren theologische Auseinandersetzungen in der Vergangenheit einen hohen Blutzoll, besonders auf europäischem Boden, gekostet haben. Und dies aufgrund innerer Konflikte in den jeweils westlich – christlichen Strömungen. Doch heute, im digitalen und globalen Zeitalter, setzen sie sich für eine Welt ein, in der der „Wert“ des Menschen, unabhängig seiner Religion, seines Geschlechtes, seiner Abstammung, gleichgestellt ist.
 
Vor über einem Jahr schrieb ich den beiden Kirchenlenkern einen kurzen Brief, in dem ich ihnen für ihre Bemühungen dankte. Ich tat dies, weil es mir erst im späteren Verlauf meines Lebens, nach all den grausamen, aber auch freudigen Erfahrungen, möglich war, sie zu verstehen. Ich erfasste und erfasse, um was es ihnen geht. Der ökumenische Gottesdienst am gestrigen Tag zeigte dies deutlich. In meinem Schreiben erwähnte ich auch die Kritik, die ich gegenüber beiden Kirchenhirten in früheren Jahren geäußert habe und befand sie, im Nachhinein, als ungerechtfertigt. Ungerechtfertigt deswegen, weil ich, in einem gewissen Rahmen, in meinem „eigenen“ Kreis, in meiner „eigenen“ Filterblase gefangen war, ohne einen Schritt auf den anderen zuzugehen, der ebenfalls ausschließlich in „seiner“ Welt agierte und nicht viel darüber hinaussah. Die Relativierung meiner damals kritischen Worte wäre nicht ehrlich, wenn ich mir meine eigenen Fehler nicht selbst eingestehen und nach außen kommunizieren würde. Aus diesem Gedanken heraus bereiste ich, im Rahmen des Projektes „Peacemaker“, Länder des Nahen Ostens, um den Menschen, den Muslim, den Christen, den Jesiden, den Juden, den Atheisten… kennenzulernen und darüber zu berichten.
 
Denn ich möchte Vielfalt und Einheit zugleich. Einheit in der Art und Weise wie mir miteinander umgehen, ohne die Waffe gegen den anderen zu erheben. Vielfalt im Glauben, weil es das Recht eines jeden Einzelnen ist.
 
Das Kreuz von damals habe ich abgelegt und gegen das Kreuz des Friedens ausgetauscht. Es war und ist meine persönliche Entscheidung.  Ich habe meine innere Ruhe, in Verbundenheit mit der Liebe unseres Schöpfers, gefunden und verinnerlicht. Der ACK ist für solche Veranstaltungen zu danken, die hoffentlich noch öfters in dieser Form uns daran erinnern, dass wir über unseren eigenen Schatten springen müssen, um die Völker zu vereinen.
 
Denn so steht es auch in der Johannesoffenbarung – 7,9:
Danach sah ich: eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen. Sie standen in weißen Gewändern vor dem Thron und vor dem Lamm und trugen Palmzweige in den Händen.   
 
Simon Jacob,
Augsburg, den 23. Mai 2021
 
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Vorträge – Der ZOCD bietet verschiedene Vortragsreihen an, die sich mit gesellschaftsrelevanten Themen beschäftigten. Hier geht es zum Vortragsportal
 
Anfragen sind zu richten an: ZOCD, Frau Daniela Hofmann, Rechte Brandstr. 34, 86167 Augsburg, Tel. 089 24 88 300 52, info@zocd.de