Ein Interview mit Pater Anton über den Angriff auf seine Kirche in Istanbul
Über Pater Anton:
Ich bin Anton Bulai und bin Rumäne. Zwischen 1991 und 1998 habe ich in Assisi in Italien, studiert. Nach Abschluss meines Masterstudiums kam ich schließlich im Jahr 1998 nach Istanbul. Bis 2012, also 14 Jahre lang, arbeitete ich als Priester in der St. Antonius-Kirche. Im August 2022 wurde ich hierher versetzt und nun seit anderthalb Jahren in der Geburtskirche der Jungfrau Maria im Dienst. Tatsächlich ist dies meine zweite Erfahrung als Priester. Ich bin übrigens Franziskaner-Provinzpater und derzeit für die Franziskaner-Priester in dieser Region zuständig.
(Pater Anton, Bildquelle: Pater Anton Bulai)
Pater Anton, ich bedaure den Anschlag während des Gottesdienstes in Ihrer Kirche sehr. Wie geht es Ihnen und Ihrer Gemeinde seit dem Anschlag von letzter Woche?
Wir haben alle dieselbe Angst erlebt. Dieses Ereignis ist vorbei, aber jetzt bleibt natürlich eine psychologische Angst in uns, die wir nicht kontrollieren können. Angst hat verschiedene Formen. Sie drückt sich aus. Weil wir sie alle unterschiedlich erlebt haben. Deshalb hat der eine mehr, der andere weniger Angst. Während der eine Angst um seine eigenen älteren Leute hat, hat ein anderer Angst um sein Kind. Ein anderer hat Angst um seine Eltern. Wir spüren sie auf verschiedenen Ebenen. Wir hoffen und wünschen, dass diese Ängste verschwinden. Eigentlich möchte ich sagen, dass wir uns in einem Heilungsprozess befinden und hoffen, dass der Herr uns immer mehr heilt. Denn er hat uns beschützt. Jesus wird auf jeden Fall heilen. Ich möchte noch hinzufügen, dass ich mir sicher bin, dass der Herr an diesem Tag ein großes Wunder getan hat. Aus jedem unserer Häuser ging ein Bruder als Opfer zu Gott, aber der Herr hat uns alle beschützt, und wir konnten alle gesund und munter nach Hause zurückkehren. Und wir haben dieses Wunder gesehen, dass der Herr mit uns war, die Gegenwart des Herrn. Wir haben alle die Liebe und Barmherzigkeit Gottes gespürt. Jeden Tag erzählen wir es einander und reden über unsere Sorgen. Gleichzeitig fühlen wir uns sehr geliebt. Es sind viele Menschen um uns herum, die immer wieder kommen und uns ihre Liebe zeigen.
Können Sie uns den Verlauf des Angriffs schildern und wie Sie und die Gemeindemitglieder diesen erlebt haben?
Der letzte Sonntag, der Morgen des 28. Januar, sollte ein schöner Tag werden. Die Gemeinde hatte sich versammelt, um zu beten, Lieder zu singen und unseren Herrn zu loben. Nach einer Woche harter Arbeit war es unser Ziel, in der Gegenwart Gottes zu ruhen.
Als Gott, der Herr, zu den Menschen sprach, die ihm zuhörten, wurde die friedliche Stille durch das Geräusch von zwei Gewehren unterbrochen. Ich stand am Altar und betete in Richtung Mikrofon, als ich ein Geräusch hörte. Ich dachte, unser Heizstrahler sei umgestoßen worden, also öffnete ich meine Augen zuerst nicht. Aber eine Sekunde später hörte ich das zweite Geräusch, öffnete meine Augen und sah mich mit einem Anblick konfrontiert, den niemand von uns erleben möchte. Die beiden Gewehre schienen miteinander zu konkurrieren, um den Frieden und die Stille zu brechen. Ich sah die Gläubigen nicht wie üblich im Gebet knien, sondern sich unter den Kirchenbänken ducken oder anderswo Schutz suchen.
Einer der Gemeindemitglieder rannte auf mich zu, zog mich hinein und beschloss, mich zu schützen, indem er die Tür mit dem Schlüssel schloss. "Was machst du da?", fragte ich ihn, "vielleicht will auch eines der Gemeindemitglieder hereinkommen", also öffnete ich ängstlich die Tür und schaute langsam in die Kirche hinein. Ich sah völlige Stille. Einer der Gemeindemitglieder lief zur Tür, um sie zu schließen, konnte es aber nicht. Ich eilte zur Tür und fragte im Vorbeigehen die Gemeinde, die zwischen den Bänken und umgestürzten Stühlen auf dem Boden lag: "Geht es euch gut?“ Ich kam mir vor wie ein Hirte, der die toten Lämmer zählt.
Ich ging hinaus, vor die Kirche, um zu sehen, ob ich einen der Männer sehen konnte, die meine Lämmer getötet hatten. Es gibt noch weitere Details, die ich Ihnen nicht erzählen kann.
Ich kehrte in die Kirche zurück und half dem Bruder, der sich abmühte, die Tür zu schließen, während jemand anderes bereits die Polizei und den Krankenwagen gerufen hatte. Ich sah, wie einige Leute aufstanden und sagte zu ihnen, sie sollten sofort raus in den Garten gehen. Nach einer Weile erzählte mir ein Gläubiger, der am Bett von Murat Cihan Tuncer kniete, dass er verwundet worden war und später starb. Murat Cihan war weder Mitglied unserer Gemeinde noch war er Christ. Ich hatte ihn ein paar Mal in der Kirche gesehen, aber er hatte uns nie etwas gefragt. Ich glaube, er mochte einfach einige unserer christlichen Traditionen.
Am Sonntag hat sich in dieser Kirche ein göttliches Wunder ereignet. Gott war mit uns. Die Jungfrau Maria, die Schutzpatronin dieser Kirche, hat uns trotz des Opfers unseres Bruders beschützt. Können Sie sich vorstellen, dass zwei Gewehre, die Dutzende von Menschen töten wollten, nur ein Ziel fanden? Beide Gewehre haben geklemmt? Ich überlasse es Ihrem Glauben, aber erzählen Sie allen von diesem Wunder, das einmal mehr die Macht Gottes zeigt.
Sofort traf die Polizei ein, der Krankenwagen kam, der Rest ist bekannt und gesehen. Aber das, was nicht bekannt ist und nicht gesehen wird, ist die Nähe, die Solidarität, die Tränen, die praktische Hilfe unserer Nachbarn. Ich würde gerne jemanden nennen, der uns sehr geholfen hat, aber ich werde davon absehen.
Ich möchte unserem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der als Erster seine Stimme gegen den Vorfall erhoben hat, dafür danken, dass er die nötige Nähe und das Interesse gezeigt hat, um die Verbrecher zu fassen. Und ich möchte alle danken, die uns ermutigt haben. Ich möchte die Minister und Ministervertreter danken, die uns persönlich besucht haben, dem Bürgermeister der Stadt Istanbul, dem Bezirks- und andere Bürgermeister, die persönlich gekommen sind und viele Politiker, die unseren Stimmen in irgendeiner Weise Gehör verschafft haben.
Ich möchte auch den Polizeibeamten danken, die nicht nur heldenhaft die Täter gefunden haben, die diese schöne Büyükdere beschädigt haben, sondern die uns auch in den letzten Tagen sehr nahe standen und uns unterstützt haben. Sie haben stundenlang vor oder in der Kirche Wache gehalten und uns persönlich angerufen.
Ich möchte den christlichen Kirchen und unseren franziskanischen Brüdern und Schwestern im Konvent, den religiösen Führern, ja wirklich allen danken.
Ich sage aufrichtig, dass ich in diesen Tagen nur eine Religion gesehen habe, die ich auf diese Weise ausdrücken kann: Die Religion der Brüder und Schwestern, die sich lieben, die denselben allmächtigen Gott und denselben Tempel haben.
Aus all dieser Verbundenheit, Solidarität und bedingungslosen Liebe ziehe ich folgende Schlussfolgerung: Ich verstehe, dass der Tod unseres verstorbenen Bruders Murat Cihan und der Vorfall, der sich hier ereignet hat, keine einfache Wunde ist. Dieser Vorfall hat jeden verletzt, der sich als Türke bezeichnet. Es ist eine Wunde, die uns alle leiden lässt. Wir beten, dass der heilige, mächtige, ewige Gott diese Wunde heilen möge. Ich liebe euch alle und wünsche euch Frieden vom Herrn.
(Geburtskirche der Jungfrau Maria, Bildquelle: Pater Anton Bulai)
Welche Unterstützung und Hilfe benötigten Ihre Gemeinde momentan am dringendsten?
Wir benötigen psychologische Unterstützung. Für einige von uns hat die Stadtverwaltung von Istanbul bereits Psychologen zu uns geschickt und jeder, der eine psychologische Behandlung braucht, kann sich an sie wenden. Gleichzeitig brauchen wir wirklich Zuversicht, um das Vertrauen in die Kirche wiederherzustellen. Ich finde, dass die türkischen Polizisten sehr gute Arbeit leisten. Sie stehen an der Spitze, um uns zu ermutigen, ohne Angst in die Kirche zu gehen, zu beten und wieder Vertrauen zu haben. Sie wachen Tag und Nacht vor der Kirchentür. Sie geben uns die Sicherheit zurück, und diese Unterstützung ist für uns sehr wichtig.
Die Eingangstür unserer Kirche liegt direkt an der Hauptstraße. Um mehr Sicherheit vor Angriffen zu bekommen, müssen wir verhindern, dass jemand direkt von der Straße in die Kirche gelangen kann. Dafür müssen wir einen kleinen Zaun aus Eisen bauen, aber im Moment haben wir nicht die Mittel dazu. In einem Monat werden wir mit Gottes Hilfe anfangen, das Dach und die Außenwände der Kirche zu renovieren. Wir haben etwas Geld dafür gesammelt, dies wird jedoch nicht ganz ausreichen.
Welche materiellen Schäden musste die Gemeinde in der Kirche hinnehmen?
An unserer Kirche ist kein großer materieller Schaden entstanden. Es gab lediglich ein oder zwei Einschusslöcher.
(Geburtskirche der Jungfrau Maria, Bildquelle: Pater Anton Bulai)
Wie gehen Sie als spiritueller Führer mit den Herausforderungen um, die sich aus diesem Ereignis ergeben haben?
Für uns ist es wichtig zu wissen und zu spüren, dass wir nicht allein sind. In diesem Fall fängt man nach dem Ereignis wieder von vorne an. Die ganze Türkei, jeder, angefangen von unserem Präsidenten, den Politikern und den Geistlichen, hat uns Nähe, Liebe und Solidarität gezeigt und tut dies auch weiterhin. Sie haben uns keine Chance gelassen, uns allein zu fühlen und das ist beruhigend und ermutigend. Um uns und der Kirche herum, gibt es sehr gute Nachbarn. Sunniten, Aleviten, Juden, Christen. Wir sind eins, das waren wir schon immer, das ist nichts Neues. Aber dieses Ereignis hat uns noch näher zusammengebracht und ich bin sicher, dass wir durch diese Liebe, durch diese Nähe einen stärkeren Neuanfang haben werden. Ich bete zum Herrn, dass er uns alle erleuchtet. Ich versuche seine Wünsche zu erfüllen, denn das ist es, was Gott von uns will. Brüderlich leben, brüderlich teilen. Wir mögen Schwierigkeiten und Probleme haben, aber wir werden diese Last gemeinsam tragen.
Ich danke wirklich jeden für diese Nachbarschaft und ich danke dem Herrn.
Es ist zu erwähnen, dass unsere Kirche nicht wie in den Medien geschrieben, Santa Maria Kirche, sondern „Geburtskirche der Jungfrau Maria“ heißt. So steht es auch auf der Fassade der Kirche.
Die Jungfrau Maria als Schutzpatronin der Kirche wird uns nach diesem Ereignis mit neuem Mut, mit größerem Glauben, mit tieferer Liebe und mit einer pastoralen und seelsorglichen Haltung helfen. Machen wir unsere priesterliche Arbeit.
Wir danken Pater Anton dafür, dass er dieses tragische Erlebnis mit uns geteilt hat und wünschen ihm und seiner Gemeinde viel Kraft.