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Autor: Manuela Woywode
Ort: Armenien, Aserbaidschan
Format: Text
Thema: Gesellschaft, Minderheiten, Politik
Datum: 04.12.2023
Portal: ZOCD.de
Textdauer: 5 Minuten
Sprache: Deutsch
Titel: Ein Interview mit  Isabell Sardaryan zur aktuellen Situation in Bergkarabach
 
 
(Berg Ararat , Bildquelle: Isabell Sardaryan)
 
 
Ein Interview mit  Isabell Sardaryan zur aktuellen Situation in Bergkarabach
 
Krieg, Gewalt, Wut und Terror, die dunkle Kehrseite der Menschheit, sind Themen, mit denen wir derzeit hart konfrontiert werden. Weltweit brachen neue Konflikte aus, alte flammten wieder auf und bestehende haben immer noch keinen Frieden gefunden. Seit Februar 2022 wütet der Krieg in der Ukraine, in Afrika bekämpfen sich Regierungstruppen und bewaffnete Gruppen, die Konflikte im Nahen Osten sind noch lange nicht gelöst, Kämpfe zwischen Israel und den palästinensischen Gruppen werden immer gewaltsamer und die Situation in Bergkarabach hat im September erneut eine drastische Wende genommen. Der Konflikt um das Gebiet besteht bereits seit Jahrzehnten, die Ursprünge dieses ethno-territorialen Konflikts reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Seitdem forderte der Streit um Bergkarabach zwischen den Armeniern und Aserbaidschanern eine Menge an Todesopfern und führt zu massenhafter Flucht und Vertreibung. Trotz mehrerer Waffenstillstandsabkommen ist bis heute kein Frieden in Sicht. Am 19. September hat Aserbaidschan eine neue Militäroperation gestartet, um die Konfliktregion zu erobern. Wenige Tage später, erklärten sie den Sieg und erneut fliehen Tausende Menschen aus ihrer Heimat.
In einem Interview berichtet Isabell Sardaryan, zweite Vorsitzende des ZOCD, über die aktuelle Situation in Bergkarabach. 
 
 
 
(Isabell Sardaryan, Bildquelle: Isabell Sardaryan)
 
 
Du bist derzeit in Eriwan, die Hauptstadt von Armenien. Hat die Situation in Bergkarabach auch Auswirkungen auf Eriwan? Wie reagiert Armenien auf die Situation in Bergkarabach?  
Derzeit sind viele Freiwillige damit beschäftigt, den Menschen aus Bergkarabach zu helfen, die dringend Nahrung, Unterkunft, Kleidung und Arbeit benötigen. In Eriwan sieht man hierfür Sachspenden wie Kleider und Möbel auf den Straßen. Die Bevölkerung ist viel engagierter als die Regierung, den Menschen aus Bergkarabach zu helfen. Jedoch ist die Aufnahme von fast 120.000 Menschen in so kurzer Zeit eine Herausforderung für Armenien, da es hier an Ressourcen und Arbeitsmöglichkeiten mangelt. In Armenien gibt es nicht genügend Arbeitsplätze, mit denen man ausreichend verdient, um damit die eigene Familie zu versorgen. Nicht wenige Menschen aus Bergkarabach haben deshalb Armenien bereits verlassen und werden es in den nächsten Wochen noch tun, um z.B. nach Russland auszuwandern.
 
Aserbaidschan und Armenien haben eine sehr lange Geschichte der Feindschaft. Glaubst du, dass eines Tages eine friedliche Aussöhnung möglich sein wird?
Der Konflikt um Bergkarabach hätte schon in den 80er Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion besser gelöst werden können, wenn sich die richtigen Leute auf aserbaidschanischer und armenischer Seite für eine friedliche Lösung eingesetzt hätten. Der Konflikt fiel jedoch, sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite, in die Hände von Leuten, die keine Kompromissbereitschaft zeigten und extrem maximalistisch eingestellt waren. Sowohl für die Aserbaidschaner als auch für die Armenier ist das Trauma sehr schwer und noch nicht lange her. Die Gefahr, dass sich dieses Trauma wiederholt, besteht nach wie vor, denn noch immer werden beide Völker durch die Politik und die Einstellung der Menschen zueinander, entmenschlicht.
 
Jedoch denke ich, dass Aserbaidschan in seiner Position als „Sieger“ des Krieges von 2020 in der Verantwortung steht, Frieden mit Armenien zu schließen, anstatt weitere Territorien von Armenien zu fordern. 
 
Aserbaidschan soll der Welt beweisen, dass Armenier in Aserbaidschan sicher leben können.  Allerdings hat Aserbaidschan bisher keine Garantie für die Sicherheit von Armeniern aus Bergkarabach und der Republik Armenien gegeben.
Die Zukunft sieht gerade düster aus. Bisher wurden keine Schritte unternommen, um Armeniens Sicherheit als Nachbarland von Aserbaidschan zu gewährleisten. Stattdessen besteht die Bedrohung, dass der südlichen Teil Armeniens als Korridor zwischen der aserbaidschanischen Autonomen Republik Nachitschewan und Aserbaidschan genutzt wird.
 
  
Die Armenier fühlen sich in Bergkarabach im Stich gelassen. Wieso?
Armenien ist Mitglied der von Russland gegründeten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Als Aserbaidschan im Jahr 2022 die armenische östliche Grenze angriff, forderte der armenische Premierminister Nikol Paschinjan das Militärbündnis dazu auf, auf der Grundlage des Artikels 4 der OVKS zu helfen. Laut dieser wird eine „Aggression gegen OVKS-Mitgliedsstaaten von den anderen Teilnehmern als Aggression gegen alle betrachtet“. Putin lehnte die Ausrufung des Bündnisfalles ab und entsandte lediglich Beobachter. Seitdem sind die armenisch-russischen Beziehungen angespannt.
Als Folge davon, versucht Armenien die Beziehungen mit neuen Partnern in der Politik zu stärken, die Möglichkeiten neuer Partnerschaften zur Sicherheit Armeniens scheinen bisher jedoch kompliziert. Grund dafür ist das Angebot der EU an Aserbaidschan vom Februar 2022, im Zuge des russisch-ukrainischen Krieges die Gaslieferungen über Pipelines durch die Türkei und Georgien in Richtung Adria zu erhöhen. Die EU und Aserbaidschan unterzeichneten in der Folge eine Absichtserklärung zur Verdoppelung der Gaslieferungen aus Aserbaidschan in die EU und zum Ausbau des Südlichen Gastransportkorridors. Dieser Korridor liefert nach Angaben der EU-Kommissarin Ursula von der Leyen, mehr als acht Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr.
Weder die EU noch die USA haben die Unabhängigkeit von mehrheitlich armenisch bewohnten Bergkarabachs in den den vergangenen 20 Jahren anerkannt, bis Aserbaidschan im Herbst 2020 Bergkarabach erobert hat.

All diese Entwicklungen und Reaktionen wirken sich negativ auf die Sicherheit Armeniens aus und vermitteln den Armeniern das Gefühl, von der Welt weitgehend im Stich gelassen zu werden. 
 
 
 
(Kloster Chor Virap, Bildquelle: Simon Jacob, 2015, Armenien)   
 
 
Die aserbaidschanische Bevölkerung ist mehrheitlich muslimisch, während die Armenier hauptsächlich Christen sind. Welche Rolle spielt Religion in Bergkarabach/allgemein zwischen den beiden?
Religion spielt in den meisten Konflikten der Welt keine primäre Rolle, sondern wird von bestimmten Gruppen instrumentalisiert. Dies ist auch beim Bergkarabach-Konflikt teilweise zu beobachten. Aserbaidschan gehört zu den Ländern, in denen der schiitische Islam praktiziert wird. Armenien gehört zu den christlich-orthodoxen Ländern. Zudem sind Aserbaidschan und Armenien ehemalige Sowjetstaaten.
Viele Menschen im Westen sind sich nicht bewusst, welchen Einfluss die Religion heute in den ehemaligen Sowjetstaaten hat. Während des größten Teils der Geschichte der Sowjetunion war die Ausübung von Religionen verboten. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde dies wieder möglich. Trotzdem hat die atheistische Sowjetunion das Verständnis von Religion in den meisten ehemaligen Sowjetstaaten beeinflusst. In den meisten Ländern ist Religion eng mit der Kultur verbunden und wird nicht streng praktiziert. Viele identifizieren sich als Christ oder Muslim, führen aber ein eher weltliches Leben. Aus religiöser Sicht sind weder Armenien noch Aserbaidschan besonders strenggläubig. Es gibt viele mehrheitlich islamische Länder, in denen Armenier leben und arbeiten, ohne das Land zu verlassen. Die Religion in Bergkarabach wird nur von Teilen der Medien und der Bevölkerung instrumentalisiert.
 
  
Aserbaidschan plant die Integration Bergkarabachs, was könnte das für Folgen haben?
Ob man schon von Integration sprechen kann, wenn bereits die Mehrheit der armenischen Bevölkerung aus Bergkarabach ausgewandert ist, wäre die Frage.
Bisher wurde kein Integrationsplan vorgestellt. Es ist lediglich bekannt, dass alle Armenier, die in Bergkarabach geblieben sind, einen aserbaidschanischen Pass erhalten werden. Die aserbaidschanische Regierung griff im September 2023 armenische Zivilisten an und tötete sie, was zu einer massiven Vertreibung der Bevölkerung führte. Die Aussagen der aserbaidschanischen Regierung, entspricht nicht ihren Handlungen. Aktuellen Daten zufolge sind in Bergkarabach weniger als 1000 Armenier geblieben.
 
Bist du der Meinung, dass die Situation des Ukraine-Kriegs ebenfalls an der Hilfslosigkeit der Armenier beteiligt ist?
Einige Analysten sind der Meinung, dass Aserbaidschan die russische Ablenkung aufgrund der Situation in der Ukraine genutzt hat, um Armenien und Bergkarabach erneut anzugreifen. Andere Analysten hingegen glauben, dass Russland Aserbaidschan grünes Licht für den Angriff gegeben hat, um die Abhängigkeit Armeniens von Russland zu verstärken. Es gibt daher unterschiedliche Ansichten und Theorien zu dieser Frage.

Persönlich bin ich der Meinung, dass die Situation in der Ukraine keine Rolle spielt.
Aserbaidschan hat im Jahr 2020 gesehen, dass Rüstung, Waffen und Organisation während des Krieges in Armenien schwächer waren als dort und daraus Vorteile gezogen.
 
(Wie) unterstützt der ZOCD?
 
Am 23. September 2023 fand eine Mahnwache vor dem Bundeskanzleramt in Berlin statt. Der ZOCD gehört zu den Organisationen, die diesen Aufruf unterzeichnet haben. Folgende Punkte wurden gefordert:
  
  • Den Rückzug der aserbaidschanischen Streitkräfte aus der Region Nagorny-Karabach,
  • Die Entsendung von UN-Truppen zur Überwachung eines Waffenstillstandes
  • Eine klare Verurteilung der Verbrechen Aserbaidschans
  • Eine internationale, unabhängige Untersuchung der gegenwärtigen Situation
  • Sanktionen gegen die verantwortlichen Politiker wie Präsident Ilham Alijew und Rovshan Najaf, den Präsidenten der staatlichen aserbaidschanischen Ölgesellschaft SOCAR  

 

 

(Bildquelle: Simon Jacob, 2015, Armenien)