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Autor: Maximilian Feldmann
Ort: Oslo, Norwegen
Format: Text
Thema: Technologie, Extremismus
Datum: 26.05.2020
Portal: www.zocd.de
Textdauer: ca.10 Minuten
Sprache: Deutsch
Titel: Digitalisierung – Einfluss auf Antisemitismus, Islamophobie und Populismus in Europa

 

 

Individuelle Radikalisierung als Herausforderung für Norwegen

 

Als Anfang des Monats der Prozess gegen den 22-jährigen Philip Manshaus in Oslo begann, war dies nur eine kleine Meldung in den deutschsprachigen Medien. Für die Menschen in Norwegen weckt der Prozess schmerzliche Erinnerungen. Philip Manshaus griff am 10. August 2019 die Al-Noor Moschee in Baerum an, wurde aber rechtzeitig gestoppt.

Die rechtsextremen Motive Manshaus‘ erinnerten stark an einen früheren Anschlag in der Geschichte des Landes.

Am 22. Juli des Jahres 2011 ereignete sich der schlimmste terroristische Akt in der Geschichte Norwegens, als der Rechtsextremist Anders Behring Breivik über 77 Menschen im Osloer Regierungsbezirk und auf der Insel Utoya ermordete. Die Tragödie rückte zum ersten Mal das skandinavische Land in den Fokus der Terrorforschung.

Insbesondere für die jüdische und muslimische Minderheit in Norwegen stellte sich ab da an die Frage, wie sicher sie in ihrem Land sind. Eine Frage, welche in heutigen (Corona-)Krisenzeiten wieder an Aktualität gewonnen hat.

 

Mit diesen Themen beschäftigt sich Vibeke Moe, Forschungsbeauftragte und Projektkoordinatorin am Norwegischen Zentrum für Holocaust und Minderheitsstudien. Ihre Forschungsgebiete umfassen Antisemitismus, muslimisch – jüdische Beziehungen sowie Themen in Bezug auf das historische Zusammenleben zwischen Juden und Muslimen in Norwegen.

 

Max Feldmann: Können Sie kurz die aktuelle Situation der religiösen Minderheiten in Norwegen beschreiben?

Vibeke Moe: Norwegen ist an für sich ein sicheres Land. Allerdings konnten wir durch Umfragen eruieren, dass etwa 34 % der befragten Norweger Vorurteile gegen Muslime haben. Es leben ca. 200.000 Muslimen in Norwegen. Was die jüdische Gemeinde in Norwegen betrifft, so ist diese mit ca. 1200 Mitgliedern sehr klein und es gibt nur zwei Synagogen im Land. Antisemitismus ist allerdings ein Thema. Die  klassische Betrachtungsweise demgegenüber scheint auf dem Rückzug zu sein. Laut unserer Umfragen folgen nur 8 % der Befragten dem stereotypische Narrativ Denken antisemitischer Prägung. Dies betrifft die breite Gesellschaft. Radikalisierung findet dagegen individuell statt und ist eine große Gefahr, unabhängig der der vielschichtigen Zivilgesellschaft.

 

M.F.: Haben die Anschläge von Behring Breivik Ihre Arbeit beeinflusst?

V.M: Definitiv! Ich denke, dass allen im Land die Gefahr des rechten Extremismus und was individuell radikalisierte Menschen im Stande sind zu tun, bewusst wurde. Mit seiner Attacke auf das Jugendlager der Sozialdemokratischen Partei, griff Breivik symbolisch das Zentrum unserer Demokratie an. Die Attacke zeigte auch, dass Radikalisierung in unserer digitalen Welt keine Grenzen kennt. Seit 2011 ist diese Gefahr leider tendenziell gestiegen. Unsere Forschung befasst sich mit Islamophobie, Antisemitismus und der Situation von Minderheiten in Norwegen. Wir untersuchen auch die Auswirkungen von Verschwörungstheorien, die in Breiviks Weltanschauung eine zentrale Bedeutung spielten. Rechtsextremisten und islamistische Extremisten wurden 2020 von der norwegischen Polizei als gleichwertige Sicherheitsbedrohungen eingestuft.

 

M.F.: Was unternimmt Norwegen, um Antisemitismus einzudämmen?

V.M.: 2011 begannen führte unser Zentrum die erste Umfrage zu Antisemitismus durch. Damals hatten noch 12 % antisemitische Einstellungen, aber 2017 sind es, wie bereits erwähnt nur noch 8 %. Ein Grund für diese positive Entwicklung könnte ein verstärktes Bewusstsein für Antisemitismus als aktuelles Problem in der Gesellschaft sein. Die Regierung initiierte 2016 einen Aktionsplan, der viele Projekte, Forschung und Bildung, Maßnahmen zum Schutz der jüdischen Gemeinde und andere Initiativen umfasste. Bei der Messung von Einstellungen stellt sich jedoch auch die Frage, wie Antisemitismus definiert wird. Wenn man anti-israelische Einstellungen betrachtet, z. B. die Behauptung, Israelis tuen mit den Palästinensern das Gleiche, was die Nazis mit Juden gemacht haben, kamen wir 2011 auf eine Zustimmungsrate von 38 %. 2017 ist sie durch Aufklärungsarbeit auf 32 % gefallen, auf hohem Niveau. Gewaltbereiter Antisemitismus ist in Norwegen aber selten. Seit 2011 haben wir lediglich 19 Fälle erfasst.

 

M.F.: Sie sprachen von individueller Radikalisierung. Welche Gruppen sind betroffen und welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?

V.M.: Online-Radikalisierung ist ein globales Phänomen, aber die Leute radikalisieren sich aus verschiedenen Gründen, durch persönlichen Kontakt z.B. und vernetzten sich auch miteinander. Die norwegische rechtsextreme Szene scheint aktiver zu sein und zu wachsen, obwohl sie noch relativ klein ist. Diese ist eng mit der schwedischen vernetzt. Die sogenannte „Nordic Resistance Movement“ tritt vielerorts mit Aufmärschen in Erscheinung und will, so ihre Vorstellung, Skandinavien und „den Norden“ vor einer Invasion durch Fremde schützen, als eine Art Selbstverteidigung. Breivik oder Manshaus teilten diese Vorstellung von einer Bedrohung ihrer „Rasse“. Für die individuelle Radikalisierung spielt das Internet eine große Rolle. Manshaus z.B. wurde durch die Anschläge in Neuseeland inspiriert. Die Rechtsextremisten bilden online Allianzen.

Auf der anderen Seite findet ebenfalls eine Radikalisierung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft statt. Viele fühlen sich nicht ausgeschlossen aus der norwegischen Gesellschaft und suchen einen Sinn. Die Suche nach Zugehörigkeit führt sie in die Arme von Jihadisten. Es gibt auch die Ideologen, die ein pan-islamisches Weltbild haben oder aus vermeintlicher Solidarität mit Muslimen in anderen Regionen, „Rache“ an der westlichen Gesellschaft verüben wollen.

Allerdings ist sich der Staat der antidemokratischen, anti-sozialen Entwicklungen wie auch Verschwörungstheorien bewusst.

 

M.F.: Wie wirkt sich die aktuelle Corona-Krise auf diese Entwicklung aus?

V.M.: In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass Krisen die gesellschaftlichen Spannungen verstärken. Vorurteile wie Antisemitismus dienen dazu, die Situation zu „erklären“ und einen Sündenbock zu projizieren. Dies geschah z.B. während der letzten Wirtschaftskrise. Eine Umfrage aus dem Jahr 2013 ergab, dass jeder fünfte Jude in Europa gehört hatte, dass Juden für die Wirtschaftskrise verantwortlich sind. In Krisenzeiten gedeihen antisemitische Verschwörungstheorien. Dazu gehören Behauptungen, dass Juden hinter Corona stehen oder Israel den Impfstoff verwenden will, um den Iran anzugreifen. Darüber hinaus sehen wir einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Verschwörungstheorien. Anti-muslimische oder anti-eingewanderte Verschwörungstheorien können eine antisemitische Grundlage haben, wenn beispielsweise behauptet wird, dass Muslime in Europa einmarschieren, aber Juden die Kontrolle haben und als subversive Kraft agieren.

 

M.F.: Können Religionen etwas tun, um diesen Tendenzen etwas entgegenzuhalten?

V.M.: Definitiv! In allen Religionen gibt es gemeinsame Ziele, die in den Vordergrund treten müssen. Es ist wahr, dass Extremisten gerne religiöse Rahmenbedingungen für ihre Ideologie verwenden. Religionen können jedoch inklusiv sein und Toleranz fördern. Das brauchen wir. Für islamistische Extremisten zum Beispiel gelten andere Muslime, die nicht so denken wie sie, als der wahre „Feind“. Ich glaube, dass Religionen daher zusammenarbeiten und den Dialog gegen radikale Tendenzen fördern können.

 

M.F.: Vielen Dank für das Gespräch!

V.M.: Gerne!

 

Maximilian Feldmann

 

 

Zu Viebeke Moes jüngsten Veröffentlichungen zählen: The Shifting Boundaries of Prejudice. Antisemitism and Islamophobia in Contemporary Norway (ed. With C. Hoffmann, 2020), Attitudes towards Jews and Muslims in Norway 2017 (ed. with C. Hoffmann, 2018) and "Hvis de hadde oppført seg som vanlige nordmenn, hadde alt vært greit, tror jeg", FLEKS-Scandinavian Journal of Intercultural Theory and Practice, 3:1 (2016) (with C. Lenz, I. Levin and C.A. Døving)

Kostenunverbindlich als PDF abrufbar unter dem Link wie folgt:

PDF/The Shifting Boundaries of Prejudice/Englische Version

Kontaktanfragen an die Autorin können über die Mail ID: vibeke.moe@hlsenteret.no erfolgen.

 

Online sind weitere Publikationen der Autorin auf der Plattform idunn.no zu finden.

 

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Vorträge – Der ZOCD bietet verschiedene Vortragsreihen an, die sich mit gesellschaftsrelevanten Themen beschäftigten. Hier geht es zum Vortragsportal

 

Anfragen sind zu richten an: ZOCD, Frau Daniela Hofmann, Rechte Brandstr. 34, 86167 Augsburg, Tel. 089 24 88 300 52, info@zocd.de