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Autor: Simon Jacob
Ort: Augsburg, Deutschland
Format: Text
Thema: Gesellschaft, Religion, Politik, Extremismus
Datum: 25.12.2020
Portal: www.zocd.de
Textdauer: ca. 8 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Brief an einen Freund – Über Diktaturen, Autokraten und Instrumentalisierung
 
(Bild: August 2014, Demonstation in Göppingen)
 

Brief an einen Freund – Über Diktaturen, Autokraten und Instrumentalisierung

 
Seit vielen Jahren wollte ich diesem wertgeschätzten Freund diesen Brief schreiben. Ihm in seine sanftmütigen und freundlichen, oftmals besorgten Augen blicken, die so milde wirken, und ihm sagen, dass er Recht hatte. Damals, vor vielen, vielen Jahren, kurz nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings und der Demonstrationen in den Großstädten Europas, getragen durch deutsch nahöstliche Christen mit syrischen, türkischen oder irakischen Wurzeln. Noch vor dem Aufkommen des IS, im Schatten der Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten, beseelte Angst jene Christen, die sich wieder daran erinnerten, was es bedeutet, unter der Knute der Scharia, eines fanatischen Islams, einer ultraorthodoxen Auslegung des Glaubens, leben zu müssen, welcher sie, und nicht nur sie sondern auch viele andere Menschen, in der Mehrheit Muslime, ängstigte. So kam, was kommen musste: im Zuge der Konflikte konfessionalisierten sich die Kriege in der Region und übertrugen sich digital in die Köpfe jener, die in den letzten hundert Jahren in verschiedenen Zeitabständen aus Ägypten, Syrien, Irak oder der Türkei geflohen waren. Und sie weckten Erinnerungen. Erinnerungen an brutale Enthauptungen, Vergewaltigungen, die Zerstörung und Entweihung sakraler Orte, Massenhinrichtungen, Versklavung und Verstümmelung. Geradezu prophetisch setzten extremistische Gruppierungen, laut „Allah u Akhbar“ rufend, all diese Gräuel in die Tat um. Die virale Verbreitung über die Netzwerke der „Ungläubigen“, ob es nun Twitter, YouTube oder Facebook war, versetzte auch die Menschen im Westen in Schrecken. Und so sah sich manch ein westlicher Christ in der Pflicht, den orientalischen Brüdern und Schwestern beizustehen und ging auf die Straßen in den Metropolen Europas, um für orientalische Christen zu demonstrieren, ihnen eine Stimme zu geben, sie nicht alleine zu lassen. Sie beteiligten sich an den Sprechchören der Verängstigten, der Warner, der Besorgten und hörten den Reden jener zu, die Angst vor einem Genozid hatten, welcher die Vorfahren im Osmanischen Reich bereits fast ausgelöscht hatte. Und sie wurden nicht müde zu wiederholen, dass die im Islam bekannte Hingabe zu Gott, zu Allah dem Allmächtigen, verbunden mit dem „Allah u Akhbar – Ruf“, bei den meisten nahöstlichen Christen Angst hervorruft; besonders in Verbindung mit blutrünstigen und bärtigen Wesen, die vor laufender Kamera, archaisch inszeniert und genüsslich geifernd, mit reichlich Schaum vor dem Mund, den Kopf vom Korpus eines Gepeinigten trennen. Der muslimische Ruf nach Gott, unabhängig wie dieser gehört wird, bewegt die Menschen dazu sich umzusehen, weil sie die Befürchtung haben, dass sich jederzeit ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengen könnte - denn nahöstliche Christen bringen eben jene schrecklichen Taten mit dem „einen Islam“, dem Islam der Verblendeten und Wahnsinnigen in Verbindung, welcher so viel Leid verursacht hat und immer noch versursacht. Und die Katholiken, Protestanten, Agnostiker, Atheisten, Rechten, Linken, Besorgten marschierten mit uns mit, marschierten mit mir mit. Und jene wie ich, deren Vorfahren vor über 100 Jahren während der Konflikte im Osmanischen Reich fast zur Gänze aufgrund Ihres Glaubens ausgemerzt wurden, marschierten an der Spitze der Bewegung. Getrieben durch die Ängste und Sorgen, dass die Saat des Hasses, der Verachtung, der Ungleichheit, des religiös – politischen Faschismus sich weiterhin ausbreitet und sich seinen Weg nach Europa bahnt. Er hat dies längst getan. Nicht erst seit heute. Ob dies nun in Form faschistischer Bewegungen ist, wie ihn die türkisch – nationalistischen Grauen Wölfe vertreten, die als rechtsradikal eingestuft werden, oder Strömungen islamisch – salafistischer Glaubensdiktate, die einen ultraorthodoxen Islam sunnitischer Prägung, gekoppelt an den Rechtskorpus der Scharia, als absolut für die ganze Welt betrachten.
 
Damit werden wir leben müssen. Wir tun es bereits. Und nicht erst seit heute. Wir taten es zur Zeit der Reformationskriege. Die Welt tat es während der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus. Wir werden es tun, wenn sich neue Formen des Faschismus, des Absolutismus, der Autokratie und Diktatur auftun. Und wieder werden wir auf die Straße gehen, dagegen demonstrieren, kritisieren und Druck aufbauen. Übrigens etwas, das man nur in einer demokratische Staatsform tun kann. Aus persönlichen Erfahrungen durch meine Zeit als Journalist, aber auch meiner Aufenthalte in Asien, kann ich definitiv sagen, dass ich Presse- und Meinungsfreiheit wertschätzen gelernt habe; denn diese gab und gibt es, in der maximal anwendbaren Form und ausgerichtet auf die Freiheit des Einzelnen, nur in einer funktionierenden und auf den universellen Menschenrechten fußenden Demokratie.
 
Nun wollte ich diesem Freund nach all den Jahren des Reisens, des Leids, der freudigen als auch traumatischen Erlebnisse, der Verluste, der Tränen, der glücklichen Momente wie auch des persönlichen Schmerzes, dies schreiben.
 
Ich wollte ihm sagen, dass er damals Recht hatte, als er mich mit besorgten Blicken, fast väterlich, immer darauf bedacht sanft und freundschaftlich mit mir umzugehen, davor warnte, mich, uns, alle um uns herum, nicht instrumentalisieren zu lassen. Wir sollten unsere Ängste nicht von jenen kontrollieren lassen, die absolut herrschten und immer noch herrschen, Oppositionelle foltern, vergewaltigen, in den Kerker sperren und bestialisch ermorden. Wir sollten weiter über den Tellerrand blicken und begreifen, dass jene Diktatoren, Autokraten und Dogmatiker uns lediglich als Vorwand verwenden, um ihre eigenen blutrünstigen Taten, in Angesicht der perfiden medialen Verbreitung eines IS, einer Boko Haram, einer Al Qaida usw. … , zu rechtfertigen. Angeblich zum Schutze der Christen im Nahen Osten, in Nordafrika, in Asien. Und so entließen einige der Diktatoren, Machtsüchtige, elitären Clique jene Höllenhunde aus den Gefängnissen, so z.B. 2012 in Syrien geschehen, um gegen Christen, Oppositionelle, Andersdenkende zu hetzen, verbunden mit dem Kalkül, dass jene, die Angst haben vor dem IS und anderen Fanatikern eine größere Angst entwickeln, um weiterhin dem Herrscher zu huldigen, zu dienen, gleich eines „Feigenblattes“, welches der westlichen Welt entgegengeworfen wird.
 
„Seht her, wir sind es, die die Christen, die den Ursprung Eures Glaubens schützen“, verbunden mit der Erwartungshaltung, im Konflikt mit der Demokratie, sie weiterhin foltern, morden und vergewaltigen zu lassen. Denn jene, die uns nahöstliche Christen, mich und meine ganze Sippschaft eingeschlossen, als Feigenblatt verwenden, sind nicht besser als jene, die uns unter „Allah u Akhbar Rufen“ den Kopf abschneiden wollen. Sie, jene, die ihre Gräuel lieber im Verborgenen verüben, während Anhänger des IS dies schmatzend, geifernd und grinsend öffentlich tun, werfen uns Christen eines Tages weg wie einen abgenutzten und fast zerschmetterten Schild, wenn dieser nicht mehr benötigt wird.
 
Meinem Freund möchte ich sagen, dass er Recht hatte und weiterhin Recht hat. Doch haben die Menschen auch Angst. Und solange ihnen diese Angst nicht genommen wird, egal ob im Orient oder Okzident, werden sie sich bewusst von all jenen blenden lassen, die ihnen wenigstens das Überleben versprechen.
 
Bis es den, der sie einst zu einem hohen Preis beschützen wollte, nicht mehr gibt und damit auch sie, die Christen, Jesiden, Liberale, Andersdenkende verschwinden.
 
Simon Jacob
 
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