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Autor: Simon Jacob
Ort: Augsburg, Deutschland
Format: Text
Thema: Religion, Gesellschaft
Datum: 28.01.2022
Portal: www.oannesjournalism.com
Textdauer: ca. 25 Minuten
Sprache: Deutsch
Titel: Afzal – Peacemaker aus Pakistan
 
Bildquelle: Afzal Majeed Butt
 

Afzal – Peacemaker aus Pakistan

2020 sollte ich für drei Wochen auf Einladung des US – Außenministeriums in die Staaten reisen, ich hatte mich für das "International Visitor Leadership Program" – kurz IVLP - qualifiziert, um Religion, Kultur, Politik, gesellschaftliches Leben usw. besser kennenzulernen. Das Programm existiert bereits seit über 80 Jahren und so manch ein weltbekannter Politiker, Journalist, Kulturschaffender, wie zum Beispiel auch die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, waren Teilnehmer, sogenannte „Alumni“ (Absolventen), des Programms.
 
Das ist nun fast zwei Jahre her und ich stehe immer noch in regem Kontakt mit Politikern, Institutionen, Teilnehmern und Gastgebern, die ich in dieser Zeit treffen und kennenlernen durfte. Das Ziel des Programms ist es, Menschen aus allen Regionen dieser Welt, Angehörige unterschiedlichster Religionen, Ethnien und Kulturen zusammenzubringen,  und so eröffnete es auch mir Möglichkeiten wunderbare und äußerst interessante Bekanntschaften zu machen.  Eine unserer Stationen war das schöne San Antonio in Texas, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben ein „Live Rodeo“ bewundern durfte. Texas war eigentlich das extreme Gegenstück zu Washington D.C. Wahrscheinlich würde man heute davon sprechen, dass Washington D.C. „woke“ ist und Texas eher „konservativ“. Nun, ich komme aus Bayern - ein Bundesland, welches im Süden Deutschlands liegt und von den nördlichen Bundestländern ebenfalls als „konservativ“ bezeichnet wird. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Städte wie Berlin oder Hamburg dann auch als „woke“ zu betiteln wären. Doch als objektiver Teilnehmer war es meine Aufgabe zu beobachten und zu verstehen; unabhängig der rechts–links Polarisierung, die in Europa ebenfalls für hitzige und auch sehr schwierige Debatten sorgt. Und da meine geliebte Kamera, eine Canon 6D mit der ich bereits in den Kriegsregionen des Nahen Ostens Aufnahmen gemacht habe, mein ständiger Begleiter ist, musste und wollte ich natürlich die ganze Zeit fotografieren. So auch bei einem großen Zusammentreffen mehrerer IVLP – Gruppen aus unterschiedlichen Kontinenten, welches vom „San Antonio Council FOR INTERNATIONAL VISITORS“ organisiert wurde, dem an dieser Stelle für das wunderbare Event noch einmal zu danken ist.
 
An dem Tag, an dem so viele verschiedene Gäste der USA zusammenkamen, um gemeinsam etwas zu essen, sich auszutauschen und zu unterhalten, bemerkte ich, dass an jedem Tisch unterschiedliche Fahnen in den Halterungen steckten. Die Farben Chinas, des Irans, Russlands waren ebenso darunter wie die Farbenvielfalt anderer europäischer, afrikanischer oder auch asiatischer Länder. Bereits damals versuchte ich mir auszumalen, wie schön eine Welt wäre, wenn wir gemeinsam, als Bewohner dieser Erde, darin bestrebt wären, Frieden und Gleichheit für alle zu ermöglichen. Vielleicht klingt das gerade in Anbetracht der aktuellen geopolitischen Spannungen wie der naive Gedanke eines Menschen, der Krieg erlebt hat und nicht mehr erleben möchte. Und vielleicht ist es das auch. Doch sollten wir deswegen aufgeben? Nein… ich denke nicht. Wir sollten die Gegebenheiten auch aus dem Blickwinkel des Einzelnen betrachten. Wenn wir das tun, wenn einzelne Menschen etwas in Gang bringen, kann sich daraus ein Regenschauer ergeben, der ganze Ozeane füllt. Wir müssen es nur wollen, so wie  ich es will und ein wertgeschätzter Freund es auch möchte, den ich an diesem lockeren und angenehmen Abend traf.
 
Bildquelle: Simon Jacob, IVLP Gathering 2020, Texas, San Antonio
  
Afzal Majeed Butt kommt aus Pakistan, ist Medienschaffender, Journalist und bringt eine über 20-jährige Erfahrung mit, die sich in einer Lockerheit Ausdruck verschafft, die dem Mittvierziger hervorragend steht. Afzal hat seinen Bachelor in den Fächern Journalismus und Politikwissenschaften an der University in Punjab erworben. Seine Freunde nennen ihn „Load Bearing Wall“, was, wenn ich es richtig verstanden habe, so viel bedeutet, wie dass er äußerst strapazierfähig ist. Nun, in einem Land wie Pakistan, welches ich nur aus den Nachrichten im Zusammenhang mit den Taliban oder Terroranschlägen kenne, braucht man wohl ziemlich gute Nerven, um als Journalist tätig zu sein. Erst recht, wenn man beruflich für Pakistans größten Nachrichtenkanal, ARY, als Chefredakteur in der Hauptstadt mediale Verantwortung trägt. Ich machte an diesem angenehmen Abend in San Antonio von allen Gästen unzählige Fotos, die ich ihnen später zukommen ließ. So auch von Afzal und den Mitgliedern seiner Gruppe, die alle aus verschiedenen Ländern Zentral- und Südostasiens kamen. Ein Foto vom pakistanischen Journalisten gefiel mir besonders gut. Sein imposanter und äußert gepflegter Bart erinnerte mich an die Geistlichen in meiner Kirche, ich gehöre der Syr.-Orthodoxen Kirche an, und im Besonderen an einen Bischof, den ich sehr wertschätze. Jedenfalls haben Afzal und seine Kollegen Eindruck bei mir hinterlassen. Mit dem sunnitischen Muslim und einem weiteren Mitglied aus der Gruppe stehe ich immer noch in Kontakt. Rajagopal Yasiharan, der Sri Lanka seine Heimat nennt, ebenfalls Journalist und, so wie ich mitbekommen habe, Atheist ist, tauscht sich ebenfalls von Zeit zu Zeit mit mir aus. Seine Facebook Posts sind immer wieder interessant zu lesen, voller Farben, Bilder und ab und zu auch philosophischer Akzente sowie witziger Videos. Und so ergab es sich nun an dem Abend, dass sich ein Christ aus Europa mit nahöstlichen Wurzeln, ein sunnitischer Medienschaffender aus Pakistan und ein Atheist aus Sri Lanka in San Antonio, Texas/USA, über den Weg liefen, um sich besser kennenzulernen und auszutauschen. Vielleicht zeugt das von Naivität, wenn wir gemeinsam an einen universellen Frieden glauben -  oder wir beginnen damit, uns den Barrieren und Vorurteilen zu stellen, indem wir die Initiative ergreifen.
 
Bildquelle: Simon Jacob, IVLP Gahthering 2020, Afzal Majeed Butt

Januar 2022

 
Afzal hat die Initiative ergriffen. Vor einigen Wochen erzählte er mir im Zusammenhang mit einem brutalen Mord in Pakistan von einer Tat, die mich zutiefst berührt hat und welche die Essenz dessen ist, was Frieden, ehrlich gemeinter Friede zwischen den Völkern und Religionen bedeutet. Afzal und seine Freunde haben etwas getan, über das man in den Medien in Europa sehr wenig liest. Und das ist falsch. Natürlich ist es wichtig über negative Ereignisse zu berichten und das ist auch die Aufgabe eines jeden Medienschaffenden, der an ehrliche Medien glaubt. Der Familienvater ist erst vor ein paar Tagen einem Terroranschlag in Lahore entkommen und berichtete über die Ereignisse. Die westliche Presse nahm das Thema zwar auf, aber dennoch ist es für die meisten weit, sehr weit weg. Jedoch nicht für die Menschen in Pakistan. Denn sie müssen tagtäglich mit der Situation, ihren Sorgen und der daraus resultierenden Furcht klarkommen. Aber gerade deswegen ist es umso wichtiger, über Botschafter des Friedens zu berichten, die in einer äußerst angespannten, besonders von in den sozialen Medien aufgeheizten Konflikten, anderen die Hand reichen- und sich damit nicht selten in Gefahr begeben. Peacemaker eben!
 
Und von solch einem „Friedensstifter“ und  seiner Geschichte möchte ich berichten; bzw. Afzal Majeed Butt wird es mit seinen eigenen Worten mit anschließendem Interview machen.

Afzal Weihnachtsbesuch in einer Kirche

 
Nach einem Zwischenfall in Pakistan 2021, kurz vor Weihnachten, bei dem ein Christ aus Sri Lanka starb, machte sich Afzal auf dem Weg in eine pakistanisch – christliche Kirche, um mit einem Priester über die Ereignissenzu sprechen, die ihn so tief berührt haben.
 
Gleichzeitig bat mich Afzal die Geschehnisse, die er in einem Facebook – Post publiziert hatte, zu kommentieren. Angetan von der Initiative des sunnitischen Muslims und Freundes, dessen Wesen ich in den USA kennenlernen durfte, bot ich ihm an, den Post auch ins Deutsche zu übersetzen und einem breiteren Publikum, in Deutsch und Englisch, zukommen zu lassen.
 
Afzals Facebook Post – Link
Die folgende Erzählung ist im Originaltext aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt worden und schildert in den eigenen Worten des pakistanischen Journalisten, welche Initiative er und weitere Journalisten nach dem Ereignis, im Zusammenhang mit dem ermordeten Christen aus Srilanka, starteten.
 
„Es begab sich,
 
Dass eines Tages sunnitische, wahhabitische und schiitische Journalisten in eine Kirche gingen und einem christlichen Priester frohe Weihnachten wünschten. Sie aßen Kuchen aus der Hand des Priesters und der Priester aß aus ihren Händen.
 
Der Kuchen schmeckte köstlich und das Gespräch war sehr angenehm. 
 
Selbst während der beiden Sitzungen, zu denen Chai und Grüner Tee serviert wurden, waren die Debatten harmonisch und frei von Spannungen.
 
Vater Shahid Meraj erzählte uns, dass der damalige Präsident, General Pervaiz Musharraf, vor ein paar Jahren bei einem Besuch nur 15 Minuten in der Kathedrale bleiben wollte und schließlich zwei Stunden blieb. Die Gastfreundschaft seitens Vater Shahid Meraj war so groß, dass auch wir überhaupt nicht mitbekamen, wie schnell die Zeit verflog.
 
Eigentlich hatte ich die Absicht gehabt, mich während des Treffens über weitere Punkte auszutauschen, die meine Gedanken beschäftigten. Denn einige Tage zuvor hatte sich eine Tragödie ereignet.
 
Priyantha Kumara, ein christlicher Manager einer Fabrik in Pakistan, der Staatsbürger Srilankas ist, wurde von einem Mob in Sialkot gelyncht. Nach diesem Vorfall vermied ich es mit meinem jüngeren srilankischen Bruder, Rajagopal Yasiharan, der ebenfalls am IVLP Programm teilgenommen hatte und in meiner Gruppe war, zu sprechen. 
  
Doch mit Beginn der Berichterstattung in den internationalen Medien erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht von meinem Freund Yasiharan.
 
Bildquelle: Simon Jacob, IVLP Gahthering 2020, Rajagopal Yasiharan
 
Er hatte ein Twitter-Video weitergeleitet, das den grausamen Lynchmord an Priyantha Kumara zeigte. In meiner Antwort an ihn offenbarte ich meine tiefe Traurigkeit über die Nachricht, die ich vernommen hatte. Ich war zutiefst betrübt. Anfangs fehlten mir die Worte, um ihm sofort antworten zu können. Einige Zeit später, als ich mich gefasst hatte, immer noch mit einem gebrochenen Herzen, entschuldigte ich mich bei ihm, der Familie des Opfers und der gesamten Nation Srilankas.
 
Und selbst nach dieser Entschuldigung war mein Herz nicht von Stille und Frieden erfüllt. Ich empfand meine Geste als zu wenig bedeutend und unzureichend. Denn unter solchen Umständen zählen für mich Taten, nicht Worte.
 
In Absprache mit den journalistischen Kollegen Nazir Ali Bhatti und Ajaz Maqbool des Nachrichtensenders ARY, versuchten wir, einen Tag vor Weihnachten, gemeinsam mit einem christlichen Priester, symbolisch einen Kuchen zu essen. Aber wegen des vollen Terminkalenders von Vater (Priester) Shahid Meraj wurde das Treffen verschoben. Als wir schließlich am 29. Dezember zusammenkamen, wurden besonders die edlen Herzen erwähnt, die sich unermüdlich für die interreligiöse Harmonie eingesetzt haben, wie z.B. der verstorbene Qazi Hussain Ahmed, Bischof Alexander John Malik und Qazi Abdul Qadeer Khamoosh.
 
Die Kathedralkirche der Auferstehung an der Mall Road in Lahore, die auch als Hahnkirche bekannt ist (wegen der alten Wetterfahne in Form eines Hahns), wurde am Morgen darauf  mit einem Beitrag über ihre glorreiche Vergangenheit bedacht.“
 
Bildquelle: Afzal Majeed Butt
Von links nach rechts:
Ajaz Maqbool, Senior Assignment Editor ARY News (Ahl-Hadees)
Vater Shahid Meraj, Kirche der Auferstehung, The Mall, Lahore, Pakistan
Afzal Majeed Butt, IVLP Alumnus, Senior Assignment Editor ARY News (Sunni)
Nazir Ali Bhatti, Senior Reporter ARY News Lahore (Shia)
  
Im Anschluss an unser Gespräch und Afzals Erläuterungen der Gegebenheiten, in seinen Worten wiedergegeben, führte ich ein Interview mit ihm, verbunden mit dem Ziel, die gesellschaftlichen, religiösen und politischen Entwicklungen in Pakistan besser verstehen zu können.
 
Vor dem Interview folgt eine kurze Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Ereignissen in Pakistan, zusammenhängend mit dem geführten Interview, um einzelne Aspekte, inhaltsbezogen, besser verstehen zu können. Alle Quellen werden, wie im gesamten Artikel, entsprechend verlinkt.

Erläuterung - Entwicklung und Entstehung Pakistans

 
1. Qazi Hussain Ahmed:
Quazi Hussain war ein pakistanischer Theologe, Politiker und zugleich von  1987 bis 2009 politischer und religiöser Führer der islamischen Gemeinschaft Jamaat-e-Islami, einer islamisch-politischen Bewegung. Der Politiker setzte sich während seiner politischen Karriere intensive für den Austausch mit den Religionen ein.
 
2. Bischof Alexander John Malik:
Bischof Alexander John Malik war 32 Jahre lang der Bischof von Lahore und setzet sich intensiv für den religiösen Frieden zwischen den Religionen ein.
 
3. Qazi Abdul Qadeer Khamoosh:
Qazi Abdul Qadeer Khamosh, geboren 1960 im Distrikt Gujrat in Pakistan, ist Gründungsvorsitzender der Muslim Christian Federation International (MCFI).Oazi Abdul, vertreten durch die von ihm gegründete Organisation, fußt auf den Gemeinsamkeiten christlicher und muslimischer Gläubiger,
 
4. Islamische Republik Pakistan
Die Islamische Republik Pakistan liegt in Südasien und hat gemeinsame Grenzen mit dem schiitischen Iran, Afghanistan, der Volksrepublik China und Indien.
 
1947, als die Briten Britisch - Indien, besonders aufgrund der von Mohandas Karachmchand Gandhi angeführten und friedlichen Unabhängigkeitsbewegung, in die Freiheit entließen, spaltete sich der mehrheitlich muslimisch geprägte Teil des Subkontinents ab an und es entstand der Staat Pakistan. Ein territorialer Streitpunkt zwischen Indien und Pakistan ist immer noch die von mehrheitlich Muslimen bewohnte Region Kaschmir, welche von strategischer Bedeutung ist. 1971 spaltete sich Ostpakistan, im Kern aufgrund sprachlicher Unterschiede, von Pakistan ab und gründete den eigenen Staat Bangladesch.
 
Mit einer Fläche von  796.095 Quadratkilometer ist die Islamnische Republik Pakistan der neuntgrößte Staat Asiens. Das entspricht ein bisschen weniger der doppelten Größe Osterreichs und Deutschlands zusammen. Ca. 216 Millionen Einwohner zählt das Land. Viele davon in sehr jungem Alter. Das Bruttosozialprodukt betrug 2020 263 Milliarden US $. Gut drei Viertel der Einwohner leben in der Region der Flussebenen des Punjab, wo der Boden besonders fruchtbar ist. Das Land hat mit einer massiven Flüchtlingswelle aus Afghanistan zu kämpfen und hat bereits 1.3 Millionen Afghanen aufgenommen.
 
In Pakistan sind mehr als 50 Sprachen bekannt. Das indo-arische Urdu, welches auch im Iran und Afghanistan gesprochen wird, ist die festgelegte Landessprache.  Urdu galt bereits vor der Unabhängigkeit als eine Art „Lingua Franca“ für Muslime auf dem indischen Subkontinent. Neben Urdu ist das Englische als Bildungssprache weit verbreitet.  Laut der letzten Volkszählung von 1998 sind 96,3 % der Bewohner Muslime, die unterschiedlichen sunnitischen und schiitischen Strömungen angehören, die teilweise untereinander im Konflikt stehen. Hindus, Sikhs, Christen als auch weitere religiöse Strömungen bilden eine Minderheit im mehrheitlich sunnitisch – muslimisch geprägten Land. Unter den Sunniten wiederum findet der Sufismus, eine mystische und offen ausgelegte Prägung des Islams, hohen Anklang, welcher der Rechtsschule der Hanafiten unterzuordnen ist. Den wenigsten Europäern ist bewusst, dass die sufistische Gangart des Islams, die z.B. in der Türkei ebenfalls sehr ausgeprägt ist, eine tiefspirituelle Grundlage aufweist, die im starken als auch konfligierenden Kontrast zu extremistischen Gruppierungen wie dem sogenannten „Islamischen Staat“ steht.
 
Die Atommacht besitzt die sechstgrößte Armee der Welt und leidet unter Instabilität. Ethnisch – religiöse Konflikte, Terrorismus und Korruption machen den Pakistanern zu schaffen. Doch gibt es auch Positives zu vermelden. Das Land hat eine junge Bevölkerung die besonders im Bereich der Medien, des Designs und der IT, mit Fokus auf Softwareentwicklung, immer aktiver wird und zu einer großen Konkurrenz Indiens heranwächst. Daraus resultierend kristallisiert sich eine wachsende Mittelschicht heraus, die Hoffnung aufblühen lässt.
 
1948 starb der Gründer der Republik, Muhammad Ali Jinnah. März 1956 bekam Pakistan eine Verfassung, die ein aktives und passives Wahlrecht für alle Erwachsenen ab 22 vorsah. 1956 erhielten die Frauen ebenfalls das volle Wahlrecht wie die Männer. Am 27. Oktober 1958 puschte sich General Muhammed Ayub Khan an die Macht und markierte damit einen Wendepunkt in der noch recht jungen Geschichte des Staates. Weitere Militärregime folgten und ließen den säkularen Gedanken, welchen einst Muhammed Ali Jinnah als Vater der Republik hegte, ins Hintertreffen geraten.
 
1971 trat Präsident Yahya Khan ab, was zu einer vorsichtigen Demokratisierung führte. Khans Nachfolger, Zulfikar Ali Bhutto, erließ 1973 eine neue Verfassung. 1977 scheiterte die Bildung einer demokratischen Regierung. General Mohammed Zia-ul-Haq berief sich daraufhin auf das Kriegsrecht und setzte die Militärdiktatur fort. In diesem Zeitraum kam eine stärkere Islamisierung zur Geltung. Unter anderem wurde die Scharia als Rechtskorpus eingeführt. Zia  - Ul – Haq verstarb 1988, was wieder den Weg für freie Wahlen ebnete und zum ersten Mal in der Geschichte eines Islamischen Staates, mit Benazhir Bhutto, eine Frau zum Staatsoberhaupt machte. 1990 folgte die Regierung Nawaz Sharifs, 1993 gelang Bhutto die Rückkehr an die Spitze, 1997 übernahm abermals Nawaz Sharif die Führung. 1999 – 2008 waren durch eine Militärdiktatur geprägt. 2007 erklärte General Musharraf den Ausnahmezustand und setze die Verfassung außer Kraft. Es sollten Wahlen folgen. Die Vorbereitungen erlangten einen traurigen Höhepunkt, als die Oppositionsführerin Benazir Bhutto am 27. Dezember 2007 bei einem Attentat ums Leben kam. Die pakistanischen Taliban trugen die Verantwortung für den Anschlag. 2008 wurde Yousaf Raza Gilani von der Pakistanischen Volkspartei zum neuen Premier gewählt. Weitere schwierige politische Verhältnisse folgten. Seit dem 18. August 2018 ist der ehemalige Profi – Cricketspieler, Vorsitzender der Pakistan Tehreek – e – Insaf Partei (PTI), das offiziell gewählte Staatsoberhaupt des Landes.

Interview mit Afzal Majeed

 
Wie groß ist die religiöse Vielfalt in Pakistan?
Pakistan ist ein ethno-religiös diverses Land, ein Subkontinent, aus dessen Schoß Pakistan hervorging. Die meisten Pakistaner sind Muslime. Hindus und Christen sind zwei dort lebende Minderheiten. Hindus sammeln sich hauptsächlich in Sindh, eine Provinz von Pakistan, während Christen sich über ganz Pakistan verteilen. Viele Angehörige dieser Minderheiten haben Bekanntheit erlangt. Dem ersten pakistanischen Kabinett gehörte ein Dalit, Jogendra Nath Mandal (ein Hindu aus einer niedrigeren Kaste) an, während der vierte Oberste Richter Pakistans, Alvin Robert Cornelius, ein Christ war. Doch das vorzeitige Ableben des Urvaters Muhammad Ali Jinnah, bekannt als Quaid E Azam oder großer Anführer, und das ständige Versagen von demokratischen Mächten, führte zu ethnisch-religiöser Intoleranz, gekennzeichnet durch verschiedene Kriegsgesetze. 1971 spaltete sich eine große, dicht bevölkerte Region einer bengalischen ethnischen Mehrheit, bekannt als Ostpakistan, ab und benannte sich in Bangladesch um. Neben vielen anderen Gegebenheiten und Umständen, die zu dieser Abspaltung führten, war die Sprache die entscheidende Ursache. Der Großteil der Bevölkerung von Pakistan, die jetzt in Bangladesch lebt, hat Bengalisch gesprochen, doch der Rest von Westpakistan bestand aus verschiedenen Ethnien. Obwohl die Minderheit Urdu sprach, wurde es zur Nationalsprache ernannt, während Bengalisch nie an Bedeutung gewann, was zu starken Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen führte.
 
Warum wird in Pakistan zwischen Sunniten (du bist selbst Sunnit) und Wahhabiten unterschieden? Für Europäer ist es schwierig, hier zu differenzieren.
Schiiten und Sunniten sind zwei große Glaubensrichtungen des Islams, die weiter in Unterkonfessionen aufgeteilt sind. Im Mittleren Osten, besonders dort, wo Saudi-Arabien das religiöse Leben prägt, ist Wahhabismus die größte Unterkonfession. Daher wird der Begriff „Sunniten“ für die ganze Gruppierung gebraucht. Auf dem Subkontinent bildet eine weitere Unterkonfession, Bralvi, eine Mehrheit und der Begriff „Sunniten“ wird auch für sie genutzt. Sie unterscheiden sich jedoch vom Wahhabismus. Auch wenn sie vieles gemeinsam haben, bildet z.B der Besuch von Heiligenschreinen einen Unterschied.
 
Der Islam ist die Hauptreligion in Pakistan. Wie funktioniert die Koexistenz mit anderen Religionen wie dem Christentum, dem Bahaitum, dem Hinduismus oder dem Buddhismus?
Wie bereits erwähnt, war der Gründervater von Pakistan, Muhammad Ali Jinnah, ein großartiger und visionärer Anführer. Er war in seinen frühen Jahren als Repräsentant der Hindu-muslimischen Einheit bekannt, doch im weiteren Verlauf der Ereignisse forderte er am Ende einen unabhängigen muslimischen Staat. Als die Abspaltung unausweichlich wurde, bot er den Sikhs am Punjab an, sich ihm anzuschließen, da die meisten ihrer religiösen Stätten nun Teil von Pakistan waren. Er nahm einen Hindu aus einer niedrigeren Kaste in Pakistans erstes Kabinett auf und war sehr tolerant anderen Minderheiten gegenüber, da er einige Jahre im Ausland studiert und gelebt hatte. Nach seinem vorzeitigen Ableben hat die politische und militärische Elite von Pakistan sein Heimatland leider immer wieder enttäuscht. Ein kurzes Beispiel: Als Z. A. Bhutto gestürzt wurde, verbot der unbeliebte Diktator Zia-ul-Haq die Politik für viele Jahre und führte später Wahlen auf parteiunabhängiger Basis durch. Diese Wahlen wurden nicht auf der Grundlage von Ideologie, sondern auf der Grundlage von ethnischer Zugehörigkeit, konfessioneller und religiöser Unterschiede ausgefochten, wodurch jeder Versuch, Beziehungen zu anderen Gemeinschaften zu knüpfen, weiter untergraben wurde. Wenn Pakistan unter einer demokratischen Regierung aufgeblüht wäre, hätte die Situation viel besser sein können.
 
Wenn es um religiöse Freiheit geht, haben Europäer das Beispiel der Katholikin Asia Noreen (Bibi) in negativer Erinnerung. Noreen war die erste Frau in Pakistan, die wegen Blasphemie von einem Gericht in Nankana am 8. November 2010 zum Tode verurteilt wurde. Was führt zu einem solchen Urteil und wie ist es im Zusammenhang zu verstehen?
In Sachen religiöser Freiheit sind wir in Pakistan nicht so tolerant wie die westliche Welt. Das ist eine Tatsache und niemand sollte sich schämen zuzugeben, was im eigenen Land falsch läuft. Die Akzeptanz eines Problems ist der erste Schritt zur Lösung. Allerdings würde ich gerne darauf hinweisen, dass auch Europa vor weniger als hundert Jahren noch unter religiöser Intoleranz litt. Besonders in Deutschland unter Adolf Hitlers Drittem Reich herrschten schreckliche Zustände, die in der schlimmsten ethnischen Ausrottung der Juden, dem Holocaust, gipfelten. Ich glaube, dass viele Entwicklungsländer von solchen Erlebnissen und davon lernen sollten, wie diese Demokratien aus diesen dunklen Zeiten herausgewachsen und zu heutigen toleranten Gesellschaften geworden sind. Ich würde außerdem gerne erwähnen, dass Asia Noreen, oder wie sie allgemeinhin bekannt ist, Asia Bibi, im Gegensatz zu den Juden jener Jahre noch am Leben ist, vor allem dank der Bemühungen der internationalen und lokalen Gemeinschaften. In der zivilisierten westlichen Welt ist es einfach seine Stimme zu erheben, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, doch zwei Vertreter Pakistans, Salman Taseer (muslimischer Gouverneur) und Shahbaz Bhatti (christlicher Minister), mussten ihr Leben für die Freilassung von Asia Bibi lassen. Wenn wir die Intoleranz von so vielen betrachten, sollten die Bemühungen der Wenigen mit gutem Herzen nicht ungeachtet bleiben.
 
Gleichzeitig möchte ich erwähnen, dass das Eingreifen des Gesetzes zum Schutz der Ehre und des Ansehens des Propheten, Friede sei mit ihm, dringend erforderlich ist. Ich möchte noch einmal auf das europäische Beispiel des Verbots antisemitischer Vorurteile mithilfe des Gesetzes zurückkommen. Die Minderheit, die derzeit bedroht wird, sind Muslime, die durch Islamophobie Vorurteilen ausgesetzt sind. Mehrere europäische Tageszeitungen haben unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit blasphemische Karikaturen des Propheten, Friede sei mit ihm, veröffentlicht. Hätten diese Veröffentlichungen die Strafe des Gesetzes überlebt, wenn sie antisemitische Inhalte veröffentlicht hätten? Nein. Ganz einfach nein, denn es gibt ein Gesetz, das die Ehre der semitischen Gemeinschaften schützen soll. Dasselbe die Forderung von Muslimen – ein Schutz, der diejenigen davon abhält, die eine der größten Religionen der Welt im Namen der Religionsfreiheit verletzen.
 
Was bedeutet Religionsfreiheit in Pakistan? Religion ist ein Thema, das in den sozialen Medien in allen Kulturkreisen intensiv und kontrovers diskutiert wird. Welche Auswirkungen, sowohl negativ als auch positiv, haben solche Diskussionen auf die Gesellschaft?
Religionsfreiheit bedeutet in jeder Gesellschaft die Freiheit, die eigene Religion ohne Angst vor Sanktionen ausüben zu können. In dieser Hinsicht können wir feststellen, dass die meisten religiösen Minderheiten ihre religiösen Rituale in Pakistan frei ausüben dürfen. Niemandem wird das Feiern des Weihnachtsfests oder anderer religiöser Feste untersagt. Mit dem Beginn der Kämpfe in Afghanistan hat sich die Situation drastisch verändert. Doch diese Probleme sind eher sektiererischer Natur, als dass sie die Harmonie zwischen den Religionen beeinträchtigen. Wir sehen, dass die westliche Welt während des Zia-Regimes stark in die antisowjetischen Mudschaheddin investierte, ein Nebenprodukt in Form von Geld und Waffen, das gegen die religiösen Minderheiten eingesetzt wurde, was zumeist sektiererischer Natur war. In Karatschi kam es unter dem Zia-Regime auch zu den schlimmsten ethnischen Zusammenstößen, die auf der Sprache und der Herkunf beruhten. Während dieser Zeit hat Karatschi, die größte und wirtschaftlich stärkste Stadt in Pakistan, ein Blutbad zwischen der Urdu sprechenden oder Mohajir-Gemeinschaft und der Pathan-Gemeinschaft (Paschtunen)  erlebt. Im gleichen Zeitraum verschärften sich die Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten in ganz Pakistan.
 
Was bewirken Fakenews oder die Verbreitung von falschen Informationen, die verbal verbreitet werden, bei den jeweiligen Kulturen? Zum Beispiel erinnern sich viele im Westen an die Lynchmorde in den nahöstlichen Ländern wegen der Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen in den sozialen Medien.
Falsche Informationen, erfundene Nachrichten (oft als Fakenews bezeichnet) sind Mittel zur Propaganda, die im Laufe der Geschichte immer wieder eingesetzt wurden. Fast jede Nation hat die Propaganda-Medizin auf die eine oder andere Weise gekostet und die Erinnerungen können dabei alt oder neu sein. Das Problem hat sich in der heutigen Zeit nur verschlimmert, da sich der Strom der Informationen vervielfacht hat und soziale Medien Menschen zwar verbinden, es allerdings auch viel einfacher machen, Gerüchte innerhalb eines viel größeren Kreis zu verbreiten. Wenn man dies mit Analphabetismus und religiösem Fanatismus kombiniert, ist es viel wirksamer und gefährlicher als seine Vorgänger. In ländlichen Gebieten von Pakistan können solche Gerüchte zu gewalttätigen Ausschreitungen führen und sogar die Leben von Muslimen sind nicht sicher vor solchen Massen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Fall von Mishal Khan, einem Studenten der Abdul Wali Khan Universität in Mardan, Khyber-Pakhtunkhwa, der unter falschen Vorwürfen der Blasphemie gelyncht wurde.
 
Was hat dich dazu gebracht, an Weihnachten mit anderen Muslimen (Schiiten, Wahhabiten) einen christlichen Priester zu besuchen und mit ihm zu reden?
Um ehrlich zu sein, stecken viele Gründe hinter diesem Besuch. Doch der aktuelle Fall in Sialkot (Industriestadt im nördlichen Pakistan) hat die Dringlichkeit noch verstärkt, eine Geste des guten Willens zu zeigen. Ich habe die USA im Februar 2019 besucht und ich hatte das Glück, mich mit Bürgern aus ca. 9 Ländern zu umgeben, die ebenfalls Alumni des International Visitor Leadership Programs waren, und einer von ihnen stammte aus Sri Lanka. Rajagopal Yasiharan hatte während unseres Aufenthaltes den größten Respekt vor mir und hat mich immerzu Bruder genannt. Als der sri-lankische Manager Priyantha Kumara in Sialkot gelyncht wurde, hatte er ein Twitter-Video weitergeleitet, das den Mord an Priyantha Kumara zeigte und geschrieben: „Ich war zutiefst betrübt, als ich die Nachricht heute erfuhr.“ Mir fehlten die Worte für eine Antwort, doch dann schrieb ich mit gebrochenem Herzen: „Ich entschuldige mich bei dir, der Familie und Nation.“ Selbst danach war mein Herz nicht befriedigt; diese Entschuldigung war unbedeutend/unzureichend. Und unter Umständen wie diesen zählen Taten, nicht Worte.
 
Nach Absprache mit meinen ARY-Kollegen Nazir Ali Bhatti und Ajaz Maqbool, versuchten wir ein Treffen zum Kuchenessen vor Weihnachten zu vereinbaren, doch wegen des vollen Terminkalenders von Pater Shahid Meraj wurde das Treffen verschoben. Als wir am 29. Dezember endlich zusammenkamen, gedachten wir der edlen Herzen, die sich unermüdlich für die interreligiöse Harmonie eingesetzt haben, wie der verstorbene Qazi Hussain Ahmed, Bischof Alexander John Malik und Qazi Abdul Qadeer Khamoosh. Und wir glaubten daran, dass diese Legenden dasselbe getan hätten, um die Wunden zu heilen und die Menschen verschiedenster Glaubensrichtungen zusammenzubringen, indem sie sich in Zeiten des Feierns und des Schmerzes kennenlernen und grüßen.
 
Kontakt Afzal Majeed Butt
Mail: afzalmbutt@gmail.com
WhatsApp: +923444440508
 
Das Interview führte der Journalist und Vorsitzende des Zentralrates Orientalischer Christen in Deutschland e.V.,
 
Simon Jacob,
Deutschland, Augsburg, den 28. Januar 2022
 
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