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Autor: Yawsef Beth Turo
Übersetzung aus dem Englischen von: Simon Jacob
Ort: Türkei
Format: Text
Thema: Politik, Gesellschaft, Religion, Minderheiten
Datum: 15.06.2021
Portal: www.zocd.de
Textdauer: ca. 10 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Osmanisches Reich – Türkei: „Ein Genozid (Sayfo 1915 – 1918) der andauert“
Osmanisches Reich – Türkei: „Ein Genozid (Sayfo 1915 – 1918) der andauert“
von Yawsef Beth Turo, Journalist, Moderator beim Sender Suroyo TV und Sayfo-Aktivist
Was hat die Türkei zu verlieren, sollte sie den von den Osmanen begangenen Genozid an der christlichen Bevölkerung (1915 – 1918) anerkennen?
Wird sie die Auslöschung der christlichen Bevölkerung, letztendlich, bemerken?
Ich denke nicht... denn immer noch folgt die Türkei einem vorgegebenen und strikten Narrativ.
Der türkische Staat denkt, er sei uns Aramäer, Assyrer und Chaldäer (allgemein als Suryoye bekannt) losgeworden. Seit Generationen machen die Medien und das dortige Bildungssystem, so meine Einschätzung, der Bevölkerung weiß, dass das Land die nicht-muslimischen Völker wie die Armenier, die Griechen und die Suryoye endlich losgeworden sind. Man geht sogar weiter und propagiert, dass die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der nicht-muslimischen Völker, sowie deren Enteignung, erst die Gründung der Türkei ermöglichten. Im Umkehrschluss ist anzunehmen, dass man, und das ist das Tragische dabei, allen Nichtmuslimen in der Türkei eine feindliche Haltung unterstellt und diese intensiv verbreitet, was zu massiven Vorurteilen führt und Teile der türkischen Bevölkerung in Bedrängnis bringt.
Mit Ausnahme der sogenannten Linken, eine demokratische und fortschrittliche Türken vertretend, handeln meines Erachtens nach alle anderen nach dem gleichen Muster und verbreiten ein Narrativ, welches Christen, Juden, Aleviten usw. automatisch ausgrenzt. Obwohl wir seitens einiger kurdischer Bewegungen mutige Ansätze wahrgenommen haben, können auch sie uns gegenüber, leider, nicht die zu erwartende und notwendige Haltung in der Gänze entgegen bringen. Von Zeit zu Zeit werden mir von meinen engen Bekannten, Landsleuten und auch von kurdischen Freunden folgende Gedanken zugetragen:
„Seit ihr dieses Land verlassen habt, hat es an Lebensfreude verloren. Das Land verliert an Fruchtbarkeit, das Lebendige ist vergangen, die kulturelle Atmosphäre in dieser Region hat sich zum Negativen verändert.“… „Und so vieles mehr hat sich ereignet, seitdem ihr (die Suryoye) diese Region verlassen habt.“
Aber ehrlich gesagt, wenn die erwähnten Gedankengänge ernst gemeint sind, wenn der Verlust offensichtlich zu sein scheint, dann erwarte ich nach solchen Äußerungen auch entsprechendes, konkretes Handeln!
Denn heutzutage stehen Suryoye in der Türkei immer noch vor Problemen, die seit dem zwischen 1915 und 1918 im Osmanischen Reich an ihnen begangenen Genozid andauern - ob in der Ursprungsregion der Syrisch – Orthodoxen Kirche im Tur Abdin (Aramäisch Knechte Gottes, Hauptsiedlungsregion syr.-orth. Christen) oder in der Provinz Hakkari (Siedlungsregion assyrisch orthodoxer, chaldäischer Christen) in der Türkei, im Norden des Iraks in Nuhadra (Duhok) oder aber im Nordosten Syriens in der Region Gozarto, mit christlichen Siedlungen wie in der Kleinstadt Derik. Überall sind die Probleme in den einzelnen Regionen gegenwärtig; so werden zum Beispiel immer wieder die Besitzansprüche unserer Klöster, im Zusammenhang mit deren Grundbesitz, infrage gestellt und diese als Faustpfand verwendet. Der rechtliche Anspruch des Klosters Mor Augin, der Dörfer Harbtho und Derqube sowie Boqusyone und weiterer Siedlungen in der Südosttürkei sind beispielsweise bis heute ungeklärt.
Mit dem Genozid (Sayfo im Aramäischen) an der christlichen Bevölkerung, haben wir nicht nur einen Großteil unserer religiösen Gemeinschaft verloren. Darüber hinaus wurden wir unserer materiellen und immateriellen Güter beraubt. Unser kulturelles Erbe wurde fast vollständig ausgelöscht, unsere christlichen Werte nicht wahrgenommen und im Rahmen der Religionsfreiheit nur geringfügig beachtet. Ländereien, Dörfer, Klöster, Kirchen und Schulen, all dies wurde uns genommen. In diesem Zusammenhang möchte ich die Ergebnisse einer Studie vorstellen, die von der armenischen Zeitung Agos veröffentlicht wurden.
Durch das Projekt der Hrant Dink Stiftung wurde die Erhebung der Daten ermöglicht. Die Projektkoordinatorin, Frau Merve Kurt und ihre Arbeitsgruppe untersuchten mit Hilfe einer interaktiven, digitalen Karte alle Kultstätten, Schulen, Krankenhäuser und Friedhöfe sowie Dörfer und Städte von Nicht-Muslimen (Armeniern, Griechen, Suryoye und Juden) in Anatolien und Bethnahrin (Mesopotamien) sowie der gesamten Türkei und listeten diese auf. Das Ergebnis der akribischen und methodischen Erhebung ist erschütternd. 5.300 Kirchen, 2.600 Schulen, 650 Klöster, 570 Kapellen, 180 Synagogen, 50 Waisenhäuser, 25 Krankenhäuser und insgesamt 9.375 Grundstücke wurden zwischen 1915 und 1918 sowie danach beschlagnahmt, zerstört oder zweckentfremdet. Ich spreche von 10.000 sozialen und öffentlichen Gebäuden. Die über 100.000 Gebäude (Häuser, Geschäfte) in Privatbesitz sind dabei noch nicht einmal erwähnt.
Diese ersten Datenerhebungen helfen, das Ausmaß des verlorenen kulturellen Erbes in Anatolien und Mesopotamien zu quantifizieren. Betrachtet man die Ergebnisse aus dem Blickwinkel der Völker, so sind die durch das Projekt offengelegten Verluste wie folgt aufzulisten:
4.600 Gebäude der Armenier, 4.100 Gebäude der Griechen, 650 Gebäude der Suryoye und 300 weitere Gebäude der Juden wurden zerstört oder enteignet. Die Anzahl der Gebäude, die die Suryoye durch Zerstörung oder Enteignung verloren haben, scheinen gering zu sein. Doch dies täuscht. Bisher wurden hierfür einfach zu wenige Anstrengungen unternommen, um qualitative und faktische Daten zu erheben.
Wir, die Suryoye, müssen dahingehend mehr Anstrengungen an den Tag legen und wissenschaftlich – methodisch vorgehen. Als indigene Minderheit und Religionsgemeinschaft haben wir etwa 1.300 - 1.500 kulturelle und soziale Gebäude, meist Kirchen, verloren. Leider sind mehr als die Hälfte der sakralen Gebäude noch immer nicht statistisch erfasst worden.
Dazu ergänzend möchte ich, im Kontext zur Studie der Hrant Dink Stiftung, erwähnen, dass diese trotz fehlender Erhebungen sehr wichtig ist. Der Wert solcher Erhebungen und deren Wichtigkeit kann nur gelobt werden und sollte Unterstützung erfahren. Werden doch gerade hierdurch Enteignungen protokolliert, womit die Wahrheit auch an die Öffentlichkeit tritt. Meine primäre Kritik gilt den „Suryoye“, die zu wenig unterstützen, wenn es um die Erhebung solch fundamentaler Daten geht. Immer noch findet seitens der genannten ethnischen Gruppierung (Suryoye) keine Bestandsaufnahme der Verluste im Tur Abdin, in Garzan, Botan, Hakkari, Gozarto und anderen Regionen statt.
Schlussfolgernd gibt es, bezugnehmend auf die Verluste im Osmanischen Reich und dem dadurch erfolgten Genozid an den Christen, viel aufzuarbeiten. Vieles ist erdrückend und manchmal weiß man nicht, wo man anfangen soll.
Um einen kleinen Indikator zu haben, muss man sich z.B. nur dem Gedanken hingeben, dass die Gesamtzahl der deportierten Christen des osmanischen Genozids zwischen 1915 und 1918, dokumentiert im Tagebuch eines der Planers der Vernichtung und Jungtürken, Talat Pasha, auf 924.158 beziffert ist. 924.158 Menschenleben, die allein dieser eine Politiker, banal und völlig nüchtern, in seinen Tagebüchern auflistete. Wir sprechen hier von 924.158 Menschen die Häuser, Geschäfte, Besitztümer und eine eigene Lebensgeschichte ihr Eigen nannten. Jene, die an ihrem Wohnort hingerichtet wurden oder die in Arbeitslagern umgekommen sind, und deren Zahl ist gewaltig, sind in der Datenquelle dieses einen Jungpolitikers und Mitgestalter des Genozids, noch nicht einmal ansatzweise vorgekommen.
Untersuchungen dieser Art und die damit verbundenen Datenerhebungen sind eine einzigartige Quelle, mit der uns vor Augen geführt wird, was die Menschheit für ein Erbe verloren hat. Jene, die mehr darüber erfahren möchten, können dies auf der Seite turkiyekuturvarliklari.com tun. Ein Besuch des Portals lohnt sich. Die Quelle stellt Statistiken und wichtige Fakten zur Verfügung.
Angekommen im Hier und Jetzt, die aktuelle Politik betrachtend, ist festzustellen, dass die Enteignung der christlichen und jüdischen Bevölkerung, die 1915 begann, auf verschiedene Weise fortgesetzt wird: beispielsweise 1941, als gezielt die Einführung der Vermögenssteuer dafür eingesetzt wurde. Oder im Jahre 1955, während der Pogrome an der griechisch – christlichen Bevölkerung am 6. und 7. September. Während der Besetzung Zyperns 1964 und 1974 gab es ebenfalls eine Unterdrückungspolitik und zahlreiche Angriffe gegen Nichtmuslime in der Türkei. Eigentum der nichtmuslimischen Bevölkerung wurde durch die Generaldirektion für Stiftungen unter fadenscheinigen Vorwänden immer wieder enteignet. Die Fortführung solcher Maßnahmen ist im Grunde genommen Fortsetzung des Genozids von 1915. Für weitere Informationen hierzu empfehle ich den Artikel meiner Kollegin Nurcan Kaya: https://yesilgazete.org/gayrimuslimlerin-mallarina-el-koymanin-dayanilmaz-ve-doyulmaz-guzelligi-nurcan-kaya/
Auf die materielle Zerstörung und Enteignung, die scheinbar nicht genügte, folgte die erzwungene Umbenennung unserer Siedlungen, Ortschaften, Ebenen und geographischen Regionen. Das Ziel verfolgend, unsere Wurzeln und damit verbunden unser kulturelles und religiöses Erbe endgültig auszulöschen.
Ergänzend dazu möchte ich die Forschung des geschätzten Sozialwissenschaftlers Harun Tunçel (Universität Firat) aufführen. In seinen Arbeiten beschreibt er die Tatsache, dass die Namen von mehr als 12.000 Dörfern christlich – indigener Ethnien in der Türkei geändert wurden. Das bedeutet, dass ca. 35% aller Dörfer in den Siedlungsgebieten umbenannt worden sind. Nehmen wir die Bezeichnung der Berge, Ebenen und Hochebenen dazu, erhöht sich die Anzahl der Namensänderungen auf 28.000. Die Änderungen der Ortsnamen in der Türkei wurden seit den ersten Jahren der Republik systematisch durchgeführt. Der einzige Grund dafür war und ist, die geschichtlichen und historischen Wurzeln der christlichen Bevölkerung in der heutigen Türkei in der Gänze auszulöschen. Diese Art des „erzwungenen Vergessens“ ist nur die letzte Stufe eines erfolgten Völkermords. Der politische Beschluss, mit dem die Richtlinien und Verfahren zur Namensänderung wirksam wurden, so Herr Tunçel, wurde 1940 als Dekret vom Innenministerium mit der Nummer 8589 offiziell verabschiedet und trat damals mit sofortiger Wirkung in Kraft. Vergleiche hierzu sind unter der Quelle wie folgt zu finden: http://web.firat.edu.tr/sosyalbil/dergi/arsiv/cilt10/sayi2/023-034.pdf.
Aufgrund der gegenwärtig schlechten Beziehungen zwischen der Türkei und Ägypten kam mir abschließend ein Vergleich in den Sinn: obwohl auch das ägyptische Volk ursprünglich nicht arabisch war, sondern koptisch, wurde nach der arabisch-islamischen Eroberung unter der Führung von Uqba Bin Nafi im 7. Jahrhundert ein großer Teil der Bevölkerung islamisiert und später arabisiert. Obgleich es in Ägypten heute noch ca. 15 % koptische Christen unter der Bevölkerung gibt, bezeichnet sich die große Mehrheit Ägyptens als muslimisch-arabisch. Dennoch wurde die Verbindung zur Geschichte des Landes nie unterbrochen. Sie ist nach wie vor existent. Die Bezeichnungen der Orte blieben und bleiben unverändert. Heute gibt es einen ägyptischen Staat, dessen Bevölkerung stolz ist auf seine Pyramiden und die Geschichte der Pharaonen. Wie aber steht die Türkei zu ihrer Geschichte?
Spartacus von Thrakien, der anatolische Dichter Homer, der berühmte Historiker Herodot aus Bodrum, die armenischen Komitas und Saroyan, die „syrische Sonne“, wie Mor Afrem aus Nusaybin auch genannt wird, Bardayson aus Urfa, Hanna Dölabani aus Mardin, Naum Faik aus Diyarbakir, Ashur Yusuf aus Harput und viele andere Denker und Dichter sind Söhne dieses, auch unseres, Landes. Zum Teil sind sie mittlerweile unbekannt. Selbst die Tatsache, dass sie aus diesen Regionen kommen, ist überwiegend völlig in Vergessenheit geraten.
Denken wir nochmals über diesen großen Verlust nach, in all seiner Tiefe und Bedeutung des kulturellen Verlustes, begreifen wir vielleicht das immense Ausmaß der Ereignisse, die zwischen 1915 und 1918 im ehemaligen Osmanischen Reich stattfanden und bis heute, von der Türkei als Nachfolgestaat, geleugnet werden.
Yawsef BethTuto
Übersetzung: Simon Jacob
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