Christliche Identität und historische Transformation

Teil 3 – Türkei, von Ferit Tekbas

Vorwort von Dr. h.c. Berthold Gees

Im Jahre 1923 konstituierte Mustafa Kemal Pascha mit der Staatsgründung der modernen Türkei einen Verfassungsstaat nach europäischem Vorbild. Das rückständige Osmanische Reich hatte bereits im 19. Jahrhundert Macht und Einfluss verloren und ging massiv geschwächt aus dem 1. Weltkrieg hervor. 1924 dankte der letzte Kalif des Osmanischen Reiches ab. Damit war der Untergang des Osmanischen Reiches besiegelt.

In der Folge reformierte Mustafa Kemal Pascha die Türkei zu einem modernen säkularisierten Staat, der Anschluss an die europäischen Entwicklungen suchte. Die tiefgreifenden Umbrüche blieben nicht ohne Widerspruch. Aufstände wurden jedoch stets gewalttätig niedergeschlagen. Mehr noch, in den vergangenen Jahrzehnten entwickelte sich das kemalistisch ausgerichtete Militär zu einem Hüter der Reformen Atatürks.

Von wesentlichem Einfluss auf die innenpolitischen Entwicklungen waren jedoch seit Staatsgründung die Interessen unterschiedlicher Volks- und Religionsgruppen. Der wichtigste Konflikt besteht bis heute in der Auseinandersetzung zwischen der türkischen Zentralregierung und militanten Kurdengruppen. Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnliche Verhältnisse herrschen seit Jahrzehnten in den entsprechenden Gebieten, vor allem im Südosten der Türkei. Unvergessen ist auch der Völkermord an den Armeniern und an anderen Bevölkerungsgruppen der Region, der noch während des 1. Weltkrieges passierte, also vor der Staatsgründung 1923.

Die Türkei machte bei der Bekämpfung der Kurden keinen Halt vor den Landesgrenzen der Nachbarstaaten. Wiederholt führte sie auch Angriffe auf syrischem und irakischem Gebiet. Die autoritäre Politik des derzeitigen Präsidenten Erdogan hat die Spannungen eher verschärft.

Insbesondere die Menschen in der südlichen Mittelmeerregion der Türkei, einem Landstrich, welcher traditionell religiöse und ethnische Vielfalt aufweist, gerieten in die Konfliktlinien. Die Entwicklungen religiöser Extremismen in den Nachbarländern griffen teilweise auch auf die Türkei über und führten zu Anschlägen. Dennoch waren Ausmaß und Umfang dieser religiös extremistischen Anschläge, insbesondere im Süden und Süd-Osten der Türkei, nicht zu vergleichen mit den schrecklichen Entwicklungen in den Nachbarländern.

Die Menschen in der Türkei bewahrten stattdessen häufig aktiv ein tolerantes Miteinander, welches die kulturellen und religiösen Unterschiede respektiert und Extremismen ablehnt.

Der Text von Ferit Tekbas, Vorstandsmitglied der Orientalischen Christen, der sich vor allem auf die Region Antiochia an der syrischen Grenze bezieht, ist ein beredtes Dokument dieses Friedenswillens von Menschen, die in Nächstenliebe und friedlichem Miteinander ihre vielschichtigen Identitäten bewahren. Der Text liefert ein Zeugnis dafür, dass politische und religiöse Verwerfungslinien nicht notwendigerweise dazu führen müssen, den Frieden zu zerstören. Frieden ist immer dann möglich, wenn Menschen von dem Wunsch beseelt sind, Vertrauen und Toleranz aktiv zu bewahren. Und so ist dieser Text ein Zeugnis der Hoffnung, welches bei allem Schrecken der Region Mut macht.

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Ferit Tekbas: Frieden schaffen

Vor 2000 Jahren wurde Jesus Christus auf dem Hügel zu Golgata gekreuzigt. Für Christen in aller Welt ist die Kreuzigung das vielleicht wichtigste Symbol für ihren Glauben. Gott hat seine selbstlose Liebe zu den Menschen bewiesen, indem er seinen Sohn für die Sünden der Menschen opferte. Die Leiden des Kreuzweges waren so schmerzhaft, dass ein normaler Mensch sie nicht hätte ertragen können. Es war Gottes Sohn, der für uns Menschen gedemütigt, gefoltert und gekreuzigt wurde.

Wer aber nun meint, dass Leiden und Tod für Christen heute vorbei sind, der irrt. Christen werden in aller Welt verfolgt, müssen nicht selten für ihren Glauben sterben. Gerade im Nahen Osten werden und wurden Christen so stark verfolgt, das sie tagtäglich ihr ganz persönlichen Kreuz tragen müssen.

Im Jahr 1900 zählte allein die rum-orthodoxe Gemeinde in der Region Antiochien nach Erhebungen des Osmanischen Reiches ca. eine Million Menschen. Es waren genau 360 Kirchengemeinden in Anatolien um die letzte Jahrhundertwende. Heute leben in Antiochien, dem heutigen Antakya und in Mersin, ca. 12.000 rum-orthodoxe Christen, und es sind nur sieben Kirchengemeinden aktiv.

In anderen Ländern wie im Irak, im Libanon und in Syrien sieht es nicht anderes aus. Was sind die Gründe dafür? Wurde das wirklich durch die Islamisierung des Orients bewirkt, wie so vielfach behauptet wird?

Ich muss diese Frage leider mit „ja“ beantworten. Durch den Islam wurden die Christen im Nahen Osten beinahe vollständig ausgelöscht und vertrieben. Aber wie konnte der kleine Rest überleben?

Der Rest überlebte, weil moderate Muslime diese Christen retteten. Nicht die Christen des Abendlandes haben uns gerettet. Nein, uns haben die moderaten Sunniten und vor allem die Aleviten gerettet. Die Radikalen haben getötet, und die moderaten Muslime haben uns gerettet. Was lernen wir daraus? Wir dürfen die Muslime nicht in Bausch und Bogen diskreditieren. Nein, natürlich gibt es gute Muslime voller Menschlichkeit. Egal was für einen Glauben man hat! Radikal darin zu sein ist immer das Ergebnis von Grausamkeit, und der Glaube lehrt uns Friedfertigkeit.

Als Christen im Nahen Osten müssen wir uns vor allem eine Frage stellen:  Wie können wir in unseren Regionen Frieden schaffen?

Ist Frieden überhaupt möglich, wenn alle Religionsminderheiten beinahe ausgelöscht sind?

Meine Antwort lautet: Frieden ist machbar wenn Radikale, egal welcher Religion sie angehören, keine Macht haben.

Ich möchte euch von meiner Heimatstadt Antakya (Antiochien) erzählen. Das könnte ein Beispiel des Friedens im Nahen Osten sein und eine Antwort auf meine Frage geben.

Antakya wurde im Jahr 325 vor Christus von Seleukos Nikator gegründet. Seitdem wurde Antakya von verschiedenen Zivilisationen, Königreichen, unter anderem von Griechen, Arabern, Persern und zuletzt den Türken kontrolliert und regiert. Die Menschen dort haben gelernt, egal welcher Herkunft, egal welcher Religion man angehört, miteinander zu leben, zu kommunizieren, zu akzeptieren und zu tolerieren. Seit Jahrtausenden ist das die Lösung für den Frieden in Antakya. Die Kriege in der Vergangenheit, die dort ausgetragen wurden, sind allesamt von Ausländern geführt worden, nicht aber von Antakya‘nern.

Wie entsteht so ein Frieden unter so vielen verschiedenen Religionen und Konfessionen verschiedensten Ursprungs?

Die Zeit, die Kriege, die Armut haben die Menschen dort zusammengeschweißt. Sie haben gelernt voneinander zu lernen, sie haben gelernt, die Probleme die dort herrschen, gemeinsam zu lösen. Sie haben sich gemeinsam militärisch gegen Eindringlinge zu Wehr gesetzt. Aber das Wichtigste ist, was sie gelernt haben, das religiöse Bekenntnis des Nachbarn zu akzeptieren und zu tolerieren. Wenn Aleviten dort ein religiöses Fest feiern, feiert komplett Hatay mit. Wenn Sunniten ihren Ramadan feiern, feiern auch alle mit. Wenn Christen und Juden ihre Feste feiern sind genauso alle dabei. Es wird alles zusammen gemacht: Egal ob es Feiern, Trauerfeierlichkeiten oder andere Unternehmungen sind. Ich gehe noch weiter in die Thematik. In Samandag sind sich die dortigen Menschen besonders nah. Sie beten teilweise gemeinsam in den gleichen Kapellen. Eine dieser Kapellen ist die christliche St. Georg-Kapelle, Hz. Hidir, für die alevitischen Muslime. Es gibt mehrere solche Orte, die von Muslimen und Christen gleichzeitig zum Beten genutzt werden. Die Aleviten feiern ihr Ostern oder die Taufe Jesus Christi jeweils an einem anderen Datum. Die Menschen haben dort voneinander gelernt, sich zu tolerieren, zu akzeptieren, ja, sich sogar zu lieben.

Die Hatay‘ianer kämpfen dort gemeinsam gegen jede Art von Radikalismus und lassen nicht zu, dass dieser neu entsteht. Am 11.05.2013 wurden in Reyhanli/Antakya durch einen Bombenanschlag über 50 Menschen getötet und 142 verletzt. Egal wer sich hinter diesem Anschlag verborgen hat. Das Ziel war es, die Menschen dort zu provozieren und gegeneinander aufzuhetzen.

Die Zielsetzung der radikalen Gruppierungen, die hinter diesem Anschlag steckten, ging nicht auf, weil die Menschen in Antakya und in der Umgebung sich nicht provozieren und aufhetzen ließen. Die Religionsbeauftragten haben dabei eine wichtige Rolle gespielt: Sie, die Sunniten, Aleviten, Juden und christliche Religionsvertreter, haben gemeinsam eine Presseerklärung herausgegeben, um Solidarität zu zeigen und zu signalisieren,  dass dies eine Falle der radikalen Gruppen ist. Die Menschen in Antakya haben diese Botschaft sehr gut verstanden. Der Vorfall in Reyhanli hat die Menschen dort noch näher zusammenrücken lassen und zusammengeschweißt.

Antakya ist durchaus ein Beispiel für den Nahen Osten: Egal welcher Herkunft wir sind oder welcher Religion wir angehören: Wir müssen akzeptieren, dass der Andere genau dieselben Rechte hat wie wir selber. Wir müssen es akzeptieren, wenn mein Nachbar eine andere Religion hat wie ich selbst.

Wir unterscheiden uns möglicherweise in unserer Herkunft, Konfessionen und Religionen, aber wir sollten uns gegenseitig tolerieren und akzeptieren. Denn dann können wir wahrhaft sagen: „Wir sind ein VOLK“.

 

Ferit Tekbas
Vorstandsmitglied

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Ferit Tekbas wurde in Samandag/Türkei geboren und gehört der rum-orthodoxen Kirche an. Als Vorstandsmitglied des Zentralrates Orientalischer Christen in Deutschland und des Zentralrates zur Förderung und Schutz der Kultur der
Rum-Orthodoxen Christen von Antichochien e.V. – ZeROChA liegt sein Hauptaugenmerk auf der Situation der christlichen Bevölkerung in der Türkei.

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In der Reihe „Christliche Identität und historische Transformation“ sind bereits erschienen:
 
Prolog von Dr. h. c. Berthold Gees,
http://www.zocd.de/2017/11/02/christliche-identitaet-und-historische-transformation/
 
Länderübergreifender Bericht von Simon Jacob, http://www.zocd.de/2017/11/04/christliche-identitaet-und-historische-transformation-teil-1-laenderuebergreifender-bericht-simon-jacob/
 
Israel von Rabia Makhoul, http://www.zocd.de/2017/11/10/christliche-identitaet-und-historische-transformation-teil-2-israel-von-rabia-makhoul/
 
Es folgen: Irak (Ninve Ermagan), Iran (Simon Jacob)