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Die von den einzelnen Autoren veröffentlichten Texte geben ausschließlich deren Meinung wieder und nicht die der bearbeitenden Redaktionen und Veröffentlichungsplattformen
 
Autor: Valentin Hoffmann
Ort: München, Deutschland
Format: Text
Thema: Politik, Gesellschaft, Religion, Extremismus, Minderheiten
Datum: 05.12.2020
Portal: www.zocd.de
Textdauer: ca 10 Minuten
Sprache: Deutsch
Titel: Libanon –  Welche Entwicklung nimmt das Land?
 

Libanon – Welche Entwicklung nimmt das Land?

  
Interview mit Issam Abdul-Karim, Stuttgart
 
Herr Abdul-Karim kam als Flüchtling aus dem Libanon nach Deutschland. Im Jahr 2017 wurde er zum Stuttgarter des Jahres gewählt, was daran lag, dass er sich sehr für Flüchtlinge einsetzte. Zuletzt kandidierte er als Oberbürgermeister in Stuttgart und engagiert sich in vielen Projekten für die Integration und fiel schon häufiger aufgrund seiner Zivilcourage auf.
 
Herr Abdul-Karim, erzählen Sie uns bitte etwas über Ihre kulturellen Wurzeln!
Ich bin im östlich von Beirut gelegenen armenisch-christlichen Vorort „Bourj Hammoud“ als sunnitischer Moslem geboren. Von Geburt an, war ich im Schmelztiegel von Religion und Kultur beheimatet. Diese religiöse und kulturelle Vielfalt hat mich geprägt und stets motiviert, die Begegnung und den Austausch mit anderen zu suchen. Heute bin ich froh darüber, dieses Privileg erfahren zu haben. In Gebetshäusern -wie Kirchen und Synagogen- fühle ich mich genauso zuhause wie in einer Moschee. Sie haben mein Leben, mein Denken sowie Entscheidungen bereichert und mich auf Kurs gebracht. Später kamen weitere Kulturen hinzu. Ich bin als 8-jähriger Flüchtling in einem deutschen Brennpunktviertel in Stuttgart aufgewachsen. Hier lernte ich u.a. die deutsche Kultur kennen sowie durch meine Heirat mit meiner italienischen Frau Giovanna eine weitere. Die kulturelle und religiöse Vielfalt zu einer großen Familie zu vereinen, sind einige meiner wichtigsten Herausforderungen.
 
Wie haben Sie die tragische Explosion in Beirut erlebt? 
Der „Schwarze Dienstag von Beirut“ vom 4. August 2020 löste bei mir Erinnerungen an vergangene kriegerische Auseinandersetzungen hervor. Ich war wie jeden Dienstag, auch am 4. August bei meiner Mama zuhause. Bei meiner Mama läuft traditionell immer der Fernseher mit arabischen Serien, aber auch mit aktuellen News zur gegenwärtigen Situation im Libanon. Als ich die ersten tragischen Bilder sah war ich wie versteinert, und ich machte mir große Sorgen um die Menschen, Freunde und Verwandte vor Ort. Zu diesem Zeitpunkt war die Ursache noch unklar und ein Angriff mit Raketen oder ein Anschlag noch nicht offiziell ausgeschlossen worden.
 
Wer ist Ihrer Meinung nach für den fahrlässigen Umgang mit dem chemischen Stoff verantwortlich, welcher die Detonation ausgelöst hat?
Das ist nach derzeitigem Stand noch schwer zu sagen. Die libanesische Führung weist jedenfalls alle Schuldvorwürfe vehement von sich zurück und sucht die Schuld bei anderen. Fest steht, dass die prekäre Lage und Missstände im Land den Weg zur Detonation erst möglich gemacht haben. Wenn die eine Hand nicht weiß, was die andere macht, dann passieren leider solche tragischen Unfälle. Im Prinzip tragen alle Beteiligten eine gewisse Mitschuld wegen Untätigkeit, Fahrlässigkeit und Korruption. Die Ergebnisse der Untersuchungen der internationalen, unabhängigen Expertenkommission werden daher mit Spannung erwartet.
 
Was macht die politische Situation mit der jungen Generation und der vielfältigen Gesellschaft im Libanon?
Etwa ein Drittel der libanesischen Bevölkerung sind Jugendliche und junge Erwachsene. Darunter sind auch Flüchtlinge aus Palästina und Syrien. Durch den Bürgerkrieg, Flucht und Perspektivlosigkeit sind viele Jungen und Mädchen traumatisiert, manche haben teilweise Angehörige verloren. In ihrem Schicksal vereint, stehen sie zusammen und fordern ein Ende der Spaltung des Landes hin zu einem Neubeginn mit Reformen und politisch unabhängigen Experten.
 
Haben junge Menschen nicht genug von Grabenkämpfen, Korruption und Vetternwirtschaft?
Natürlich, das sind ja gerade auch die Hauptgründe für die Demonstrationen im Land, nicht nur in Beirut. Sie fordern neue Reformen, um gerade diese Missstände zu bekämpfen.
 
Was wünschen sich junge Menschen im Nahen Osten, und wie ist es möglich, diesen Wünschen nachzukommen?
Sie wünschen sich in erster Linie Ruhe, Frieden und einen neuen politischen Charakter über alle Parteien, religiösen und kulturellen Interessen hinweg. Mit neuen, jungen, kreativen und engagierten Talenten wollen sie die Korruption und den Stillstand beenden. Das ständige Auf und Ab in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und im Alltagsleben hat das Land und die Menschen müde gemacht. Um den Aufbruch zu wagen, verlangen die Demonstranten auf den Straßen, dass die „alten Parteigrößen“ sich aus der Politik zurückziehen. Erst dann können bestehende Vorurteile, Ängste und Misstrauen in der Gesellschaft durch Begegnungen abgebaut werden und den Weg für eine „Regierung der Nationalen Einheit“ bilden. Das wäre ein politischer und gesellschaftlicher Anfang! 
 
Was bedeutet Frieden für Sie?
Frieden ist die Waage zwischen Leidenschaft und Vernunft für ein glückliches Zusammenleben. Leidenschaft ohne Freiheit, Toleranz, Liebe und Freundschaft führt zur Selbstzerstörung. Die Vernunft ist die Ruhe selbst und entfaltet mit Leidenschaft zusammen sich zum Friedensstifter für alle.
 
Warum besuchen Sie als Muslim Kirchen?
Ich bin in Bourj Hammoud geboren. Der Vorort befindet sich östlich von Beirut, neben dem Beiruter Frachthafen und wird als das „Little Armenia“ im Libanon bezeichnet. Hier hatte ich schon von Geburt an Berührung mit Armenische Christen. Durch die Heirat mit meiner italienischen Jugendliebe hatte ich intensiven Zugang zur katholischen Kirche und zur christlichen Gemeinde. Als unsere beiden Kinder in die Kita und später in die Schule kamen, entschlossen meine Frau und ich uns für eine evangelische Einrichtung bzw. Religionsunterricht. Hinzu kamen dann auch meine Besuche in unserer Synagoge in Stuttgart, wo ich die jüdische Gemeinde näher kennengelernt habe. Im Laufe der Zeit und bedingt durch meine vielen Reisen, zu heiligen Plätzen wie Bethlehem, Nazareth, Jerusalem und Moses Berg, stellte ich weiter fest, dass wir alle eine große Familie sind! Und das ist auch einer meiner Herzenswünsche, dass wir uns eines Tages zusammenfinden, um zusammen zu beten und zu feiern.
 
Wie können unsere Leser den betroffenen Menschen in Beirut helfen ?
Neben der humanitären Soforthilfe sollen finanzielle Hilfen an den Libanon nur gegen politische Reformen kontrolliert ausgezahlt werden. Gerne können Spendengelder direkt an Unicef, das Rote Kreuz oder an Ärzte ohne Grenzen getätigt werden. Darüber hinaus will ich Anfang 2021 eine durch Spenden unterstützte Hilfsaktion beim Aufbau von Schulen direkt vor Ort starten und selbst mit  anpacken. Gerne können Spenden hierfür an uns gemacht werden. Wir sind gemeinnützig anerkannt und dürfen Spendenbescheinigungen ausstellen.
 
Was ist das Ziel Ihrer Hilfskampagne?
Durch die Explosion sind auch viele Schulen zerstört oder beschädigt worden. Wir wollen helfen, dass zerstörte Schulen wieder aufgebaut werden. Das ist eines unserer Ziele, damit Mädchen und Jungen weiter lernen können. Sie sind unsere Vertreter in der Zukunft und dürfen nicht als verlorene Generation durch unser untätig sein gestempelt werden. Dafür wollen wir die Spenden aus Deutschland einsetzen.
 
Weitere Infos unter: www.einfach-machen-stuttgart.de
 
Valentin Hoffmann
05.12.2020
 
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Vorträge – Der ZOCD bietet verschiedene Vortragsreihen an, die sich mit gesellschaftsrelevanten Themen beschäftigten. Hier geht es zum Vortragsportal
 
Anfragen sind zu richten an: ZOCD, Frau Daniela Hofmann, Rechte Brandstr. 34, 86167 Augsburg, Tel. 089 24 88 300 52, info@zocd.de