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Autor: Simon Jacob
Ort: Berg Karabach, Armenien, Aserbaidschan
Format: Text
Thema: Politik, Gesellschaft, Religion, Extremismus, Minderheiten
Datum: 16.10.2020
Portal: www.zocd.de
Textdauer: ca. 10 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Berg Karabach – Die Angst vor einer erneuten „Fast – Auslöschung“
  
  

Berg Karabach – Die Angst vor einer erneuten „Fast – Auslöschung“

 
„Ich ficke dich und deinen südöstlichen Teil der Türkei du Hurenkind. Zur Hölle mit Dir Schmarotzerbastard. Bei allem was mir heilig ist ich schneide dir deine Kehle von einem Ohr bis zum anderen dann ficke ich deinen Hals. Warte ab der kommt dann wirst du die Rechnung bezahlen für diene Heuchlerei so wie deine ahnen bezahlen mussten. Und deine Kinder werden es bezahlen.“
 
„So sicher wie das Amen in der Moschee.“
 
Das ist der Originaltext, inklusive aller Rechtschreibfehler, den ich 2012 über YouTube vom Pseudonym Gök Türk erhalten habe, dessen Profil ein Emblem einer pantürkischen Strafverfolgungsbehörde enthielt, im Türkischen TAKM - Avrasya Askerî Statülü Kolluk Kuvvetleri Teşkilatı genannt. Die TAKM ist militärisch organisiert und agiert in der Türkei, Aserbaidschan und Kirgistan. So jedenfalls die Beschreibung auf Wikipedia. Dass die oben erwähnten Beschimpfungen von einem Mitglied der Organisation selber stammen ist zu bezweifeln. Dass der Verfasser der vulgären und widerwärtigen Worte ein Sympathisant einer Gruppierung ist, der türkisch – nationalistische Züge nachgesagt wird,  ist eher zu vermuten. Anlass für die, scheinbar von einem Mitbürger in Deutschland, formulierten Beleidigungen war eine Video, welches Bezug nimmt auf ein Kloster (Mor Gabriel) im südostanatolischen Raum, das enteignet werden sollte. Damit zusammenhängend erwähnte ich auch den Genozid an den armenischen, assyrischen / aramäischen / chaldäischen, griechischen… Christen zwischen 1915 – 1918, begangen auf Befehl der Jungtürken und ausgeführt durch kurdische Stämme. Die Folge davon war die fast totale Vernichtung allen christlichen Lebens im Osmanischen Reich bzw. der Türkei als Nachfolgestaat. 90 % meiner damals lebenden Familie wurde ausgelöscht. Lediglich zwei Kinder von 10 in meiner Familie überlebten das Massaker - zwei Mädchen, eines davon ist meine Urgroßtante. Als Christ aus der Türkei, dessen Eltern mit mir als Kind einst nach Europa flohen, ergeht es mir wie vielen anderen Europäern, Amerikanern, Australiern… mit nahöstlich – christlichen Wurzeln: eine tiefe Angst hat unsere Vorfahren und uns geprägt. Die Angst, von Nationalisten oder religiösen Fanatikern ausgelöscht zu werden. Eine Angst, die immer wieder aufflammte und dann wieder in vielen von uns aufkeimte, als als wir erfuhren, wie Christen aus dem Irak, und später auch Syrien, von religiösen Fanatikern wie dem Islamischen Staat erniedrigt und gepeinigt wurden und eine neue Heimat suchen mussten. Und da war es wieder, dieses diffuse Gefühl, dass es die Religion ist, ein Konflikt zwischen Islam und Christentun, in dem man entweder eine Seite wählt und zum muslimischen Glauben wechselt oder sich dem Schicksal ergibt und sein Leben verliert - oder eben flieht, wie so oft geschehen. Religion bzw. die Instrumentalisierung der Religion ist so alt wie die Menschheit selbst und kostete im Laufe der Geschichte unzählige Menschenleben. Das wissen auch die Akteure, die zunehmend Konflikte schüren, um von dem abzulenken, was im Inneren für Differenzen sorgt. In der Türkei ist es definitiv die Sorge um die angeschlagene Wirtschaft, die innertürkische Flüchtlingskrise mit Syrien, die hohe Arbeitslosenquote oder auch die galoppierende Inflation. Und nun auch noch eine Pandemie. Fühlt sich eine politische Elite, die die Macht inne hat, in die Ecke gedrängt, wird ein Mechanismus entfesselt, welcher verheerende Folgen hat. Um von den eigenen Missständen abzulenken, wird ein Feindbild erschaffen. Als Feind dient alles, was gerade aufgreifbar ist: die jüdische Weltverschwörung, die amerikanische CIA, die Kurden, die Aleviten, Gülen-Anhänger oder, und das ist die bittere Wahrheit, im Besonderen die Armenier, welche neben Griechen und Suryoye (Aramäer / Assyrer / Chaldäer) die größte verbliebene christlich – ethnische Minderheit bildet. Zwei der genannten Ethnien weisen noch eine Besonderheit auf, die der aktuellen politischen Kaste scheinbar ein Dorn im Auge ist und als Anlass genommen wird, um Konflikte anzuzetteln - beginnend mit dem Gasstreit vor griechischen Inseln und unter Missachtung des Völkerrechts bis hin zu Hasstiraden gegen das kleine Armenien. Und damit gelangen wir auch schon zu einer chronologischen Leidensgeschichte, welche eine tiefe Angst, eine von vielen in der westlichen Welt nicht verstanden Sorge hervorruft, die sich tief in das vererbte Gedächtnis eines jeden verfolgten Christen mit nahöstlichen Wurzeln und seiner Nachkommen geprägt hat. Eine Angst, mit der bewusst gespielt wird, um noch mehr Konflikte zu schüren, flankiert von religiös – nationalistischen Tönen, ausgebreitet und weit aufgefächert in den sozialen Medien, einen Widerhall bei jenen findend, die den Tod all jener wünschen, die sie vor über 100 Jahren, zwischen 1915 und 1918, in der Gänze nicht vernichten konnten. Nichts anders bedeutet die Drohung, die der User Gök Türk 2012 auf meinem YouTube – Account mit der Warnung versehen hinterließ, dass man eines Tages die totale Vernichtung allen christlichen Lebens im Nahen Osten oder auch im Kaukasus, mit Armenien als primäres Ziel, anstrebt.
 
Betrachtet man sich den Konflikt mit Aserbaidschan um Berg Karabach, in dessen Gebiet aktuell mehrheitlich christliche Armenier leben, völkerrechtlich von den Mitgliedern der UN nicht anerkannt, spiegelt sich eben jene Angst in der Gänze wider, von einem pantürkischen Aggressor, in diesem Fall eingekeilt zwischen der sunnitisch geprägten Türkei und dem schiitisch geprägten Aserbaidschan, vernichtet zu werden. Der Konflikt, welcher nach dem Ende der Sowjetunion ausbrach und territoriale Fragen zwar völkerrechtlich klärte, (Berg Karabach, welches mehrheitlich von Armeniern besiedelt wird, wurde Aserbaidschan zugesprochen), hinterließ dennoch Hass und Konflikte. Einen Konflikt, der im eigentlichen Sinne seit über 100 Jahren, seit dem Genozid im Osmanischen Reich gegen die christliche Bevölkerung, die dabei fast ausgelöscht wurde, anschwillt und dazu führte, dass die armenischen Bewohner der selbstausgerufenen Republik Arzach, wie sich die Region nennt, Tausende aserbaidschanische Zivilisten aus den umliegenden Provinzen von aserbaidschanischem Staatsgebiet vertrieb, um die eigenen Flanken territorial zu schützen. War das rechtens? Nein… Gab es berechtigte Gründe für die Sorge, sich selber zu schützen müssen? Ja, die gab es und gibt es. Mit Blick auf die Ereignisse vor 100 Jahren, die Rhetorik mancher politischer Machthaber vernehmend, die sich mehr als Sultan denn Politiker betrachten, keimt immer wieder jene Angst auf, wie damals von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen zu werden. Im Besonderen, dass man unter den Augen des damaligen deutschen Kaiserreiches den Jungtürken willig zum Fraß vorgeworfen wurde, hat sich tief in das Gedächtnis eingeprägt. Und wieder sind es religiös motivierte Handlager, umgangssprachlich Dschihadisten genannt, wenn man den Aussagen des französischen Präsidenten, russischer Quellen und anderer namhafter Nachrichtenquellen Glauben schenken darf, welche in Berg Karabach gegen die Christen zu Felde ziehen. Zwar bestreiten das sowohl die türkische wie auch die aserbaidschanische Seite, doch scheint die Beweislage erdrückend zu sein. Ebenso erdrückend wie die Gegebenheit, dass der NATO – Mitgliedsstaat Türkei syrische Kämpfer aus den verschiedensten Rebellengruppen, davon viele IS Sympathisanten, in den Krieg nach Libyen oder weitere Regionen des Nahen Ostens entsandte. Die Folge ist ein Schattenkrieg, welchen die Türkei führt und damit indirekt, trotz Waffenembargos, in Regionen eingreift, welche der jetzigen politischen Führung dienlich sind und man auch so von internen Problemen ablenken kann. Der jetzige Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, mit der Türkei als Akteur im Hintergrund, wird einzig und allein aus diesem Grund geführt. Denn das Suggerieren eines äußeren Feindes, in diesem Fall auf Armenien, mit Berg Karabach im Zentrum, projiziert, ist der beste Garant, um in der eigenen Bevölkerung wieder Rückhalt zu gewinnen.
 
In Kauf genommen wird das Schüren von Hass auf allen Seiten, besonders in den sozialen Medien, was Gewalt zur Folge und damit verbunden nur noch mehr Opfer hat. Opfer, die dazu dienlich sind, den Machthunger einiger weniger zu stillen, die nicht genug davon bekommen können und von einem großosmanischen Imperium träumen. Koste es was es wolle.
 
Ein Blick in die sozialen Medien brachte folgende Hetztirade zu Tage:
 
Eine Roya Amirova auf Facebook schrieb, an die armenische Seite gerichtet (Übersetzung aus dem Englischen):
 
„Deine Mutter, Schwester, Tochter und Frau auf ihre Knie. 1915 hatten wir Euch nicht gut genug gefickt. Ihr sollt mehr bekommen… „
 
Und so wird der Hass in die Welt getragen, bis jeglicher Wille zur Vernunft nur noch ein Echo aus der Vergangenheit ist und erst dann wieder gehört werden wird, wenn das Blut auf beiden Seiten in Strömen geflossen ist. Doch wird es nicht das Blut jener sein, die nicht von ihrer Macht lassen wollten.
 
Vermerk:
 
Sehr geehrter Leser,
 
den aktuellen Artikel habe ich, den politischen Gegebenheiten geschuldet, in vielerlei Hinsicht nach persönlichem Empfinden verfasst. Manche werden mich befangen nennen. Tatsächlich bin ich das auch. Gerade deshalb danke ich dem Verein, dass er den Artikel mit einem entsprechenden Hinweis veröffentlicht. Niemand, der die Angst vor einem Genozid in die Wiege gelegt bekommen hat, könnte behaupten, völlig rational und objektiv zu agieren. Dennoch wäre es mir lieber, als Mensch, der Konflikte in einem gewissen Umfang selbst erlebt hat, wenn Vernunft und Diplomatie über Hetze, Instrumentalisierung und Hass siegen würden.
 
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Aserbaidschaner, Armenier oder auch Türken eine Krieg wollen, der das Leben ihrer Söhne und Töchter kostet.
 
Simon Jacob
 

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