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Autor: Simon Jacob
Ort: Augsburg, Deutschland
Format: Text
Thema: Politik, Gesellschaft, Religion, Extremismus
Datum: 11.07.2020
Portal: www.zocd.de
Textdauer: ca. 10 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: Hagia Sophia – Versöhnung oder Spaltung?
 
 

Hagia Sophia – Versöhnung oder Spaltung?

 

„Heilige Weisheit“, so lautet die griechische Übersetzung für die 532 n. Chr. fertiggestellte byzantinische Kirche im ehemaligen Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Die Kuppel des Prachtbaus mit ihren 33 Metern Spannweite gilt bis zum heutigen Tag als die größte über vier Tragepunkte errichtete Ziegelkuppel der Welt. Über Jahrhunderte hinweg stand der Bau als Sinnbild für das Bestehen und Fortbestehen des Christentums. In der Kathedrale wurden Kaiser gekrönt, Gläubige suchten darin Schutz. Sie war und ist für viele ein bedeutender sakraler Ort. Durch die geschichtlichen Ereignisse, über den byzantinischen Ritus hinaus, den heute z.B. die Griechisch-Orthodoxe oder die Russisch-Orthodoxe Kirche pflegen, symbolisiert sie Vielfalt, Gemeinsamkeit, Erbe und Erinnerung. 1453, nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, wurde die Kathedrale in eine Moschee umgestaltet, christliche Fresken wurden verdeckt. Die osmanischen Sultane des 16. und 17. Jahrhunderts erbauten neue Moscheen nach dem Vorbild des ehemals christlichen Baus und übernahmen dadurch, bewusst oder unbewusst, christliche Architektur, die dadurch auch muslimische Gotteshäuser prägte. Am 24. November 1934, auf Anregen Atatürks, wurde die ehemalige Kirche und Moschee in ein Museum umgewandelt und damit allen Menschen, egal ob nun gläubig oder atheistisch veranlagt, zugänglich gemacht. Und das war auch die symbolische Botschaft der Hagia Sophia nach 1934. In Symbiose mit der griechischen Namensgebung, der „Weisheit“ verpflichtet, sollte dieser für viele Menschen so sakrale Ort Zeichen der Versöhnung, der Gemeinsamkeiten, der Vielfalt in einem ansonsten konfliktreichen Umfeld sein.

 

Bis jetzt… Bis zu dem Tag, an dem ein Gericht in der Türkei, auf Bestreben der AKP und des Präsidenten Erdogan, die Öffnung der Hagia Sophia als Moschee wieder zuließ. Folglich müsste die ehemalige Kirche, die ehemalige Moschee und das ehemalige Museum, welches wieder eine Moschee wird, umbenannt werden. Denn „Weisheit“ strahlt diese Entscheidung nicht aus. Sie negiert eher den Gedanken des Gründers der türkischen Republik, Kemal Atatürk, welcher die Homogenität eines Vielvölkerstaates im Glauben, in der Kultur und in der Sprache als Ziel hatte. Die Hagia Sophia, als Museum für alle Menschen in der Welt geöffnet, sollte den modernen und nach außen hin offenen Zeitgeist symbolisieren. Innerhalb des Bestehens der Türkei gelang dies mal mehr, mal weniger, wenn man sich z.B. den aktuellen Kurdenkonflikt im südostanatolischen Raum betrachtet oder alle aufziehenden Konflikte mit den Nachbarstaaten.

 

Als Kommentator komme ich natürlich nicht umhin, meine persönliche Sichtweise, betont nicht unbefangen, wiederzugeben. Denn ich bin schon aufgrund meiner Geburt befangen: als Christ, im tiefsten Anatolien auf die Welt gekommen, aber auch als Demokrat, der sich den allgemein gültigen Menschenrechten verpflichtet sieht. Patriarchen, Geistliche und besonders hohe Vertreter der byzantinischen Kirchen habe mit Schrecken das Urteil des Obersten Verwaltungsgerichtes vernommen. Ich aber, nach der gesetzlichen Definition gebürtiger Türke, ethnisch zugehörig zu der in der Türkei wenig bekannten Minderheit der sogenannten „Suryanis“ - in Deutschland eher als „Suryoye (Aramäer/Assyrer/Chaldäer)“ bekannt - und als Christ, dessen Vorfahren während des Ersten Weltkrieges zwischen 1915 und 1918 zu einem Großteil einem Genozid, begangen durch die Jungtürken und kurdischen Stämmen, zum Opfer fielen, hegte Hoffnung auf eine Türkei der Vielfalt, der Toleranz, der ethnischen Diversität, der freien Glaubensausübung, der multiethnischen kulturellen Einflüsse, des immensen und reichhaltigen kulturellen Erbes, auf eine tiefe und innige Weisheit, die daraus entspringen konnte. In den letzten Jahren habe ich gelernt, die Türkei mit anderen Augen zu sehen. Über Generationen vererbt verbanden wir unser Schicksal als gläubige Christen immer mit dem Wohlwollen eines Herrschers, welcher, der jeweiligen Zeitepoche angepasst, uns Nichtmuslime mal besser, mal schlechter behandelte. Die Säkularisierung der Türkei, nachdem Kemal Atatürk 1923 die Republik ausrief, änderte, zumindest bezogen auf das anatolische Hinterland, nur wenig an der Lage nichtmuslimischer Glaubensgemeinschaften. Und so verließen die verbliebenen Christen die Republik Türkei, um sich im Westen eine neues Leben aufzubauen. Im Zuge dessen und eingekeilt zwischen den türkisch – kurdischen Konflikten, verließen auch meine Eltern mit mir als zweijähriges Kind die alte Heimat.  Aufgewachsen in Deutschland partizipierte ich an den Werten des Pluralismus, der Demokratie, der Chancengleichheit. Gleichzeitig impfte mir meine historische DNA, ich konnte es mir kaum aussuchen, bedingt durch religiös geprägte Konflikte im Nahen Osten, in denen es im Kern immer um Macht ging, eine Abneigung gegen den Islam als Religion, als politisches Konstrukt in Verbindung mit dem Rechtskorpus der Scharia, ein. Was zur Folge hatte, dass ich den Islam, auch als spirituelle Quelle, äußert kritisch betrachtete und viele meiner Handlungen, gerade als junger Mensch, nicht vorurteilsfrei anging. Unweigerlich führte dies, bedingt durch die Möglichkeit der Selbstbestimmung in einer Individualgesellschaft, zu einem Konflikt zwischen meiner religiösen, kulturellen, politischen und auch gesellschaftlichen Auffassung und meiner Ursprungsgesellschaft. Damit einhergehend auch zu einem Konflikt mit meinen Eltern, welcher bis heute anhält. Ich bin mir sicher, dass es vielen Menschen mit einem ähnlichen historischen Hintergrund nicht anders ergeht. Beginnend mit meinen journalistischen Aktivitäten und getrieben durch den Gedanken, die blutige und tragische Geschichte meiner Vorfahren endlich aufzuarbeiten um die Spirale der Abneigung gegenüber Millionen Menschen in der Türkei und Abermillionen Muslimen zu durchbrechen, reiste ich immer wieder in den Nahen Osten. Ich forschte nach, unterhielt mich mit den Menschen, suchte nach Gemeinsamkeiten, sprach offen und ehrlich Ängste an, reflektierte und hinterfragte. Mehrmals war ich in Istanbul, immer wieder im südostanatolischen Raum, oftmals in den angrenzenden Anrainerstaaten. 

 

Durch all die gesammelten Erfahrungen setzte in mir, in meinem Charakter, ein andauernder Prozess ein, der die vererbte und historisch bedingte Aufteilung der Welt in eine christliche und muslimische Gesellschaft erodieren ließ. Mit jedem Gespräch in einer äußert vielfältigen Welt, mit jeder Beobachtung, mit jedem Gemälde was ich sah, mit der Musik, die ich vernahm, mit jedem kulinarischen Genuss, welchen ich zu mir nahm, untermauert durch wirtschaftliche Prosperität, Wohlstand, Sicherheit, Stabilität und Frieden, begriff ich für mich, dass alle Gräuel der Vergangenheit eine Triebfeder hatten, die nicht religiös ist. Sie ist machtbedingt. Der Konflikt um Rohstoffe, Territorien und Lieferpassagen, von immenser Bedeutung für Kriege, bildete die hässliche Fratze der Kriegsverbrechen, welche einst meine Vorfahren dahinmetzelte und meine Eltern letzten Endes dazu bewegte, in Deutschland eine neues Leben aufzubauen. In Folge dessen verließ ich den zutiefst dogmatischen Weg einer konfessionellen Einteilung der Welt und begann die Menschen in der Türkei, die Vielfalt, den unendlichen Schatz der kulturellen und künstlerischen Vielfalt zu betrachten. Im Zuge dessen begegnete ich, leider, auch der vorher verborgenen und oft religiös getünchten Strömung zutiefst nationalistischen und faschistischen Gedankengutes. Unter Anwendung der Religion, in diesem Fall des sunnitischen Islams, versuchten Nationalisten in einer Art „politisch – religiös dominierender“ Doktrin die Vielfalt des Landes, der Republik Türkei, rückgängig zu machen. Weil es ihrer Ansicht nach, und  zu meinem Bedauern teilen viele „Deutsch – Türken“ diese Meinung, neben dem „Türkentum“ als Ideal einer Gesellschaft nichts anderes geben darf: keine anderen Religionen, keine anderen Sprachen, keine anderen Ethnien, keine anderen Kulturen. Dies konterkariert den Aspekt, ja sogar den innigsten Wunsch der „Weisheit“, weise zu sein. Es konterkariert den Gedanken der Hagia Sophia als Ort für alle da zu sein, um sich einem Versöhnungsprozess hinzugeben, nach dem sich alle sehnen.

 

Die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee markiert nun den Wendepunkt in einer politisch – gesellschaftlich aufgeheizten Stimmung, in der die Egomanen, die Alphatiere, die Patriarchen dieser Welt im Bestreben einem bestimmten „Männlichkeitsbild“ zu folgen, nach einem Weg suchen, um eine „idealisierte und fanatische“ Minderheit zu mobilisieren, welche sich gegen Gleichberechtigung, Geschlechtergleichheit, sexueller Entfaltung, Religionsfreiheit, Presse- und Meinungsfreiheit richtet.

 

Sie ist in dem Wahn sich als „Mann“ nach patriarchalischer Prägung zu beweisen gegen jene Vielfalt gerichtet, die die Hagia Sophia, als Erste für die gesamte Menschheit, religiös neutral, verkörperte.

 

Diese Neutralität wurde mit dem Beschluss des Obersten Verwaltungsgerichtes aufgehoben.

 

Menschen, die die Freiheit haben an nichts zu glauben, sich einer pluralistischen Gesellschaft verpflichtet fühlen, in der die allgemein gültigen Menschenrechte im Zentrum stehen, sollten die Umwandlung der altehrwürdigen Kathedrale und Moschee aus dem Blickwinkel des Pluralismus und der Diversität betrachten.

 

Menschen, die die Vergangenheit betrachten und einen Versöhnungsprozess anstreben, weinen eine tragische und kostbare Träne, die langsam und schmerzerfüllt die Wange herunterperlt, obgleich der vergebenen Chance, die solch ein Gerichtsurteil hervorgebracht hat.

 

Simon Jacob,

Augsburg, den 11. Juli 2020

 

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